Draußen wurden Lloyd und die anderen blaß. Sie sahen einander an. Schließlich konnten sie es nicht mehr ertragen. Jenny, Ken und Whitney gingen weg - ihre kalkweißen Gesichter waren verschlossen, die Gesichter von Leuten, die nichts hören und auch weiterhin nichts sehen wollen.
Nur Lloyd blieb - nicht weil er wollte, sondern weil er wußte, daß es von ihm erwartet wurde. Schließlich rief Flagg ihn hinein.
Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem großen Schreibtisch und hatte die Hände auf die Knie der Jeans gelegt. Er sah über Lloyds Kopf hinweg in die Ferne. Es zog, und Lloyd sah, daß das Panoramafenster in der Mitte eingeschlagen war. Die gezackten Ränder des Lochs waren blutig.
Am Boden lag zusammengekrümmt eine vage menschliche Gestalt, die in einen Vorhang gehüllt war.
»Schaff das weg«, sagte Flagg.
»Okay.« Lloyds Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Soll ich den Kopf nehmen?«
»Schaff das Ding in den Osten der Stadt, gieß Benzin darüber und verbrenne es. Hast du verstanden? V erbrenn es! Verbrenn das ganze verdammte Ding!«
»Gut.«
»Ja.« Flagg lächelte gütig.
Zitternd, mit trockenem Mund und vor Angst fast stöhnend, versuchte Lloyd das unförmige Bündel anzuheben. Die Unterseite war klebrig. In seinen Armen knickte es zu einem U zusammen, entglitt ihm und fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den Teppichboden zurück. Er warf Flagg einen entsetzten Blick zu, aber der saß immer noch halb erschlafft da und sah nach draußen. Lloyd packte noch einmal zu und schleifte das Bündel zur Tür.
»Lloyd?«
Er blieb stehen und drehte sich um. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm. Flagg war immer noch halb im Lotussitz, aber jetzt schwebte er etwa zwanzig Zentimeter über dem Schreibtisch, den Blick immer noch heiter durchs Zimmer gerichtet.
»W-W-W-as?«
»Hast du noch den Schlüssel, den ich dir in Phoenix gegeben habe?«
»Ja.«
»Halte ihn bereit. Die Zeit rückt heran.«
»G-G-Gut.«
Er wartete, aber Flagg sagte nichts mehr. Er schwebte in der Dunkelheit wie ein Hindu-Fakir, der einen verwirrenden Trick vorführt, sah hinaus, lächelte gelöst.
Lloyd verschwand, so schnell er konnte, wie immer froh, daß er Leben und Verstand noch hatte.
Der Tag war ruhig in Vegas. Als Lloyd gegen zwei Uhr nachmittags zurückkam, roch er nach Benzin. Der Wind war stärker geworden, und um fünf fegte er über den Strip und erzeugte heulende, wehklagende Laute zwischen den Hotels. Die Palmen, die abstarben, weil sie im Juli und August nicht von der Stadt bewässert worden waren, bogen sich im Wind; ihre Wedel flatterten wie zerfetzte Kriegsfahnen. Seltsam geformte Wolken zogen am Himmel auf.
In der Cub Bar saßen Whitney Horgan und Ken DeMott, tranken Flaschenbier und aßen Sandwiches mit Eiersalat. Drei alte Damen - alle nannten sie die Unheimlichen Schwestern - hielten am Stadtrand Hühner, und niemand schien von den Eiern genug zu bekommen. Unter Whitney und Ken im Kasino kroch der kleine Dinny McCarthy fröhlich auf einem der Spieltische herum und spielte mit einer Armee Plastiksoldaten.
»Schau dir den kleinen Knirps an«, sagte Ken zärtlich. »Man hat mich gebeten, eine Stunde auf ihn aufzupassen. Ich würde eine ganze Woche auf ihn aufpassen. Bei Gott, ich wünschte, er wäre meiner. Meine Frau hatte nur einen, und der kam zwei Monate zu früh. Nach drei Tagen starb er im Brutkasten.« Er sah auf, als Lloyd hereinkam.
»He, Dinny!« rief Lloyd.
»Yoyd! Yoyd!« schrie Dinny. Er krabbelte zum Rand des Tischs, sprang herunter und lief ihm entgegen. Lloyd hob ihn hoch, schwenkte ihn herum und drückte ihn fest.
»Einen Kuß für Lloyd?« fragte er.
Dinny gab ihm einen schmatzenden Kuß.
»Ich hab' was für dich«, sagte Lloyd und nahm eine Handvoll eingewickelte Hershey's Kisses aus der Brusttasche. Dinny krähte vor Vergnügen und packte sie. »Lloyd?«
»Was, Dinny?«
»Warum riechst du wie ein Benzinfaß?«
Lloyd lächelte. »Ich habe Abfälle verbrannt, Kleiner. Nun geh wieder spielen. Wer ist denn jetzt deine Mom?«
»Angelina.« Er sprach es Antschejiinah aus. »Dann wieder Bonnie. Ich mag Bonnie. Aber ich mag auch Angelina.«
»Sag ihr nicht, daß Lloyd dir Süßigkeiten gegeben hat. Angelina würde Lloyd hauen.«
Dinny versprach, es ihr nicht zu erzählen, und kicherte bei dem Gedanken, daß Angelina Lloyd hauen könnte. Gleich darauf saß er wieder auf dem Spieltisch und dirigierte, den Mund voll Schokolade, seine Armee. Whitney kam in seiner weißen Schürze herbei und reichte Lloyd zwei Sandwiches und eine kalte Flasche Hamm's.
»Danke«, sagte Lloyd. »Sieht gut aus.«
»Das ist selbstgebackenes syrisches Brot«, sagte Whitney stolz. Lloyd kaute eine Weile. »Hat jemand ihn gesehen?« fragte er schließlich.
Ken schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist wieder weg.«
Lloyd dachte darüber nach. Draußen heulte eine ungewöhnlich starke Bö, die sich in der Wüste einsam und verloren anhörte. Dinny hob einen Moment unruhig den Kopf und spielte dann weiter.
»Ich glaube, er ist noch irgendwo in der Nähe«, sagte Lloyd schließlich. »Ich weiß nicht, warum, aber ich bin ganz sicher... Ich glaube, er ist in der Nähe und wartet auf etwas. Ich weiß nur nicht, auf was.«
Whitney sagte mit leiser Stimme: »Glaubst du, daß er es aus ihr herausgekriegt hat?«
»Nein«, sagte Lloyd und beobachtete Dinny. »Das glaube ich nicht. Irgendwie ist die Sache für ihn schiefgelaufen. Sie... sie hat Glück gehabt oder schneller gedacht als er. Und das kommt nicht oft vor.«
»Auf lange Sicht spielt es keine Rolle«, sagte Ken, aber er sah dennoch besorgt aus.
»Nein, sicher nicht.« Lloyd lauschte eine Weile dem Wind. »Vielleicht ist er wieder nach L.A.« Aber das glaubte er nicht, und man sah es seinem Gesicht an.
Whitney ging in die Küche zurück und holte noch eine Runde Bier. Sie tranken schweigend, erfüllt von beunruhigenden Gedanken. Zuerst der Richter und nun die Frau. Beide tot. Und keiner hatte geredet. Keiner war unversehrt geblieben, wie er es befohlen hatte. Es war, als hätten die alten Yankees mit Mantle und Marris und Ford die beiden Eröffnungsspiele der FootballMeisterschaft verloren; es war kaum zu glauben - und beängstigend.
Der Wind wehte die ganze Nacht hindurch.
63
Am späten Nachmittag des 10. September spielte Dinny in dem kleinen Park nördlich des Hotel- und Kasinobezirks der Stadt. Angelina Hirschfield, seine »Mutter« für diese Woche, saß auf einer Parkbank und unterhielt sich mit einem jungen Mädchen, das vor etwa fünf Wochen nach Las Vegas gekommen war, ungefähr zehn Tage später als Angie selbst.
Angie Hirschfield war siebenundzwanzig. Das Mädchen war zehn Jahre jünger und trug heute Jeans und eine kurze Matrosenbluse, die nichts der Phantasie überließ. Der Reiz ihres straffen jungen Körpers stand in einem fast obszönen Kontrast zu ihrem kindlichen Schmollmund und dem leeren Gesichtsausdruck. Ihre Konversation war monoton und scheinbar endlos: Rock-Stars, Sex, ihr lausiger Waffenreinigungsjob in Indian Springs, Sex, ihr Diamantring, Sex, Fernsehsendungen, die sie so sehr vermißte, und Sex. Angie wünschte sich, sie würde mit jemand gehen und Sex machen, damit sie selbst ihre Ruhe hatte. Und sie hoffte, daß Dinny mindestens dreißig war, bevor dieses Mädchen seine »Mutter« wurde.
In diesem Augenblick schaute Dinny auf, lächelte und rief: »Tom! He, Tom!«
Auf der anderen Seite des Parks schlurfte ein großer, kräftiger Mann mit strohblondem Haar vorbei, dessen Frühstücksdose ihm beim Gehen gegen das Knie schlug.
»Sieht aus, als war' der Kerl besoffen«, sagte das Mädchen zu Angie.