Jetzt waren es diese bitteren Phantasien, die alten Kränkungen, die er wie gelbe Laken um sich hüllte, die alten Freunde, die nie starben, deren Zähne nie stumpf wurden, deren tödliche Zuneigung nie wankte.
Er schlug die erste Seite auf, richtete die Taschenlampe auf die Worte und fing an zu lesen.
Eine Stunde vor Einbruch der Dämmerung stopfte er das Buch wieder in Frans Rucksack und schnallte ihn zu. Er war nicht einmal besonders vorsichtig. Wenn sie aufwachte, dachte er kalt, würde er sie umbringen und verschwinden. Aber wohin? Nach Westen. Doch er würde nicht in Nebraska halten, nicht einmal in Colorado, o nein. Sie wachte nicht auf.
Er ging zu seinem Schlafsack zurück. Er masturbierte voll bitterer Verzweiflung. Als er endlich einschlief, schlief er unruhig. Er träumte, er würde auf halbem Weg an einem steilen Abhang mit Felsbrocken und Findlingen sterben. Hoch über ihm kreisten Bussarde in den nächtlichen Aufwinden und warteten darauf, daß sein Körper zu ihrer Mahlzeit würde. Kein Mond schien, keine Sterne...
Und dann öffnete sich in der Dunkelheit ein schreckliches rotes Auge: wölfisch, geisterhaft. Das Auge erfüllte ihn mit Entsetzen und hielt ihn doch in seinem Bann.
Das Auge lockte ihn.
Nach Westen, wo sich jetzt die Schatten zu ihrem Totentanz in der Dämmerung versammelten.
Als sie an diesem Abend ihr Lager aufschlugen, waren sie westlich von Joliet, Illinois. Es gab einen Kasten Bier, nette Gespräche, Gelächter. Sie hatten das Gefühl, als hätten sie mit Indiana auch den Regen hinter sich gelassen. Alle machten Bemerkungen über Harold, der noch nie so fröhlich gewesen war. »Weißt du, Harold«, sagte Frannie später am Abend, als die Party sich langsam auflöste, »ich glaube, ich habe dich noch nie so gut gelaunt gesehen. Was ist los?«
Er zwinkerte ihr fröhlich zu. »Jeder Hund hat seinen Tag, Frannie.«
Sie lächelte ihn ein wenig verdutzt an. Aber sie dachte, daß Harold sich eben geheimnisvoll gab. Unwichtig. Viel wichtiger war, daß sich alles zum Guten wendete.
An diesem Abend fing Harold an, selbst Tagebuch zu führen.
48
Er taumelte und stolperte eine lange Steigung hinauf; die sengende Sonne kochte seinen Magen und röstete sein Gehirn. Die Interstate flimmerte in der Hitze. Er war einmal Donald Merwin Elbert gewesen, aber jetzt war er für alle Zeiten der Mülleimermann und erblickte die legendären sieben Städte von Cibola.
Wie lange reiste er schon nach Westen? Wie lange, seit er The Kid getroffen hatte? Gott mochte es wissen; der Mülleimermann nicht. Es waren Tage. Nächte. Oh, an die Nächte erinnerte er sich!
Er stand schwankend in seinen Lumpen da und sah auf Cibola hinab, die verheißene Stadt, die Stadt der Träume. Er war ein Wrack. Das Handgelenk, das er gebrochen hatte, als er über das Geländer auf die an den Tank der Cheery Oil genieteten Treppe sprang, war nicht richtig geheilt; das Handgelenk war ein grotesker, mit einem dreckigen Verband umwickelter Klumpen. Die Knochen sämtlicher Finger hatten sich irgendwie zusammengezogen und die Hand in eine Quasimodo-Klaue verwandelt. Sein linker Arm war vom Ellbogen bis zur Schulter eine nur langsam verheilende Masse verbrannten Gewebes. Es roch nicht mehr schlecht und vereitert, aber das neue Fleisch war haarlos und rosa wie die Haut einer billigen Puppe. Sein grinsendes, irres Gesicht war von der Sonne verbrannt, rissig, stoppelbärtig und von den schorfigen Wunden seines Sturzes bedeckt, als sich der Vorderreifen seines Fahrrads vom Rahmen verabschiedet hatte. Er trug ein verblichenes blaues J.C.-Penney-Arbeitshemd, auf dem sich konzentrisch Schweißflecken ausbreiteten, und eine schmutzige Cordhose. Sein Rucksack, der vor kurzem noch neu gewesen war, hatte sich in Aussehen und Substanz seinem Besitzer angeglichen - ein Riemen war gerissen; Müll hatte ihn, so gut er konnte, zusammengeknotet; jetzt hing der Rucksack so schief auf seinem Rücken wie der Fensterladen eines Spukhauses; er war verstaubt, die Falten voll Wüstensand. An den Füßen trug Müll Turnschuhe Marke Kids, die mit Strohschnüren gebunden waren; die Knöchel ragten daraus hervor - zerkratzt, vom Sand aufgescheuert und bar jeglicher Socken.
Er sah zu der weit entfernten Stadt hinunter. Er wandte das Gesicht dem unerbittlichen stahlblauen Himmel und der glühenden Sonne zu, die herabgleißte und ihn mit Backofenhitze einhüllte. Er schrie. Es war ein wilder, triumphierender Schrei, fast genau wie der, den Patty Kroger ausstieß, als sie Roger Rabbit mit dem Kolben seiner eigenen Schrotflinte den Schädel gespalten hatte.
Er begann einen schlurfenden Siegestanz auf dem kochenden, hitzeflimmernden Asphalt der Interstate 15, während der heiße Wüstenwind Sand über den Highway wehte und die blauen Gipfel der Bergketten Pahranagat und Spotted mit ihren weißen Zähnen ungerührt am strahlenden Himmel sägten, wie seit Jahrtausenden. Auf der anderen Seite des Highway waren ein Lincoln Continental und ein Thunderbird fast im Sand vergraben, die Insassen hinter dem Sicherheitsglas mumifiziert. Auf Mülleimers Straßenseite hatte sich ein Stück weiter ein Kleinlaster überschlagen; nur die Räder und das Bodenblech waren noch zu sehen.
Er tanzte. Seine Füße in den zusammengebundenen und ausgetretenen Kids hüpften wie bei einem trunkenen Volkstanz auf dem Highway auf und ab. Sein zerfetztes Hemd flatterte im Wind. Die Feldflasche klapperte gegen den Rucksack. Die losen Enden des Ace-Verbands wehten im heißen Atem des Windes. Das rosa Gewebe der verheilenden Brandwunden schimmerte häßlich. Seine Schläfenadern traten hervor wie Stricke. Er wanderte jetzt schon eine Woche durch Gottes Bratpfanne nach Südwesten durch Utah, die Spitze von Arizona und dann nach Nevada, und er war ein Irrer, total verrückt.
Während er tanzte, sang er monoton, immer wieder dieselben Worte zu einer Melodie, die populär gewesen war, als er noch in der Anstalt in Terre Haute gesessen hatte, einem Song mit dem Titel »Down to the Nightclub« von einer schwarzen Gruppe namens Tower of Power. Aber der Text war von ihm. Er sang:
»Ci-a-bola, Ci-a-bola, bump-ty, bump-ty, bump! Ci-a-bola, Ci-a-bola, bump-ty, bump-ty, bump!«, und auf jedes letzte bump! folgte ein Hüpfschritt, bis in der Hitze alles verschwamm und der harsche blaue Himmel dämmergrau wurde, bis er halb bewußtlos auf der Straße zusammenbrach und sein überlastetes Herz wie verrückt in der ausgedörrten Brust klopfte. Brabbelnd und grinsend zog er sich mit letzter Kraft über den umgestürzten Lastwagen und lag in dessen schwindendem Schatten zitternd und keuchend in der Gluthitze.
»Ciabola!« krächzte er. »Bumpty-bumpty-fe«
Er fummelte mit seiner Klauenhand die Feldflasche von der Schulter und schüttelte sie. Die Flasche war fast leer. Einerlei. Er würde den letzten Tropfen austrinken und sich hier hinlegen, bis die Sonne unterging, und dann würde er auf dem Highway nach Cibola laufen, zu den legendären sieben Städten. Heute abend würde er aus ewig sprudelnden goldenen Brunnen trinken. Aber erst wenn die Mördersonne unterging. Gott war der größte Feuerteufel von allen. Vor langer, langer Zeit hatte ein Junge namens Donald Merwin Elbert den Rentenscheck der alten Oma Semple verbrannt. Derselbe Junge hatte die Methodistenkirche in Powtanville angesteckt, und wenn noch etwas von diesem Donald Merwin Elbert in dieser Hülle gewesen wäre, dann wäre es ganz bestimmt mit den Öltanks in Gary, Indiana, verbrannt worden. Mehr als neun Dutzend, und sie waren wie ein Strang-Kracher hochgegangen. Und obendrein noch rechtzeitig zum 4. Juli. Hübsch. Im Kielwasser der Feuersbrunst war nur der Mülleimermann übriggeblieben, dessen linker Arm ein rissiges, kochendes Gulasch war, und in dessen Körper ein Feuer brannte, das nie mehr ausgehen würde... jedenfalls nicht, bevor sein Körper zu schwarzer Kohle geworden war.