Auf der Veranda sitzt die älteste Frau Amerikas, eine Schwarze mit dünnem weißen Haar - sie ist selbst dünn und trägt Hauskleid und Brille. Sie sieht so dünn aus, daß man glaubt, die Nachmittagsbrise könnte sie davonwehen, sie hoch in den Himmel wirbeln und möglicherweise bis Julesburg, Colorado, tragen. Und das Instrument, auf dem sie spielt (vielleicht hält das sie unten, auf der Erde), ist eine »Gitarre«, und Nick denkt im Traum: So klingt also eine »Gitarre«. Hübsch.Er hat das Gefühl, er könnte den ganzen Tag hier stehen bleiben und die alte Frau beobachten, die mitten zwischen den grünen Maisfeldern Nebraskas auf einer von Wagenhebern gestützten Veranda sitzt, hier, westlich von Omaha und ein Stück nördlich von Osceola in Polk County, und ihr zuhören. Ihr Gesicht hat eine Million Falten und sieht aus wie die Landkarte eines Staates, dessen Geographie noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Flüsse und tiefe Täler in den braunen ledrigen Wangen, Gebirgsketten unter dem knochigen Kinn, erhabene, aufragende Moränen am Stirnansatz, die Höhlen der Augen.
Sie hat wieder angefangen zu singen und begleitet sich auf der alten Gitarre.
»Jee-sus, won't you kun-bah-yere
Oh Jee-sus, won't you kun-bah-yere
Jesus won't you come by here?
Cause now... is the needy time
Oh now... is the needy time
Now is the...«
Sag, Junge, willst du da Wurzeln schlagen?
Sie legt die Gitarre auf den Schoß wie ein Baby und winkt ihn zu sich. Nick kommt. Er sagt, daß er sie nur singen hören wollte, das Singen sei so schön.
Nun, Singen ist eine Narretei Gottes. Ich singe heute fast den ganzen Tag... wie kommst du mit diesem schwarzen Mann zurecht? Ich habe Angst vor ihm. Er macht mir...
Junge, du mußt auch Angst haben. Selbst vor einem Baum in der Dämmerung mußt du Angst haben, wenn du ihn nur auf die richtige Weise betrachtest. Wir sind alle sterblich. Gelobt sei Gott. Wie soll ich nein zu ihm sagen? Wie soll ich...
Wie atmest du? Wie träumst du? Niemand weiß es. Aber komm mich besuchen. Jederzeit. Man nennt mich Mutter Abagail. Ich bin die älteste Frau in dieser Gegend, glaube ich, und ich backe meine Plätzchen immer noch selbst. Du kannst mich jederzeit besuchen, Junge, und bring deine Freunde mit.
Aber wie komme ich hier raus?
Gott segne dich, Junge, niemand kommt jemals hier raus. Du mußt nur das Beste hoffen und Mutter Abagail besuchen kommen, wann immer du Lust hast. Ich denke, ich werde hier sein; ich gehe nicht mehr oft weg. Also, besuch mich. Ich werde hier... sein, ich werde hier sein...
Er wurde nach und nach wach, bis Nebraska und der Geruch von Mais und Mutter Abagails zerfurchtes Gesicht verschwunden waren. Die Wirklichkeit kam wieder, aber sie trat nicht an die Stelle der Traumwelt, sondern überdeckte sie, bis sie nicht mehr zu sehen war. Er war in Shoyo, Arkansas, sein Name war Nick Andros, er hatte noch nie gesprochen oder eine »Gitarre« gehört... aber er lebte noch.
Er richtete sich auf der Pritsche auf, stellte die Beine auf den Fußboden und betrachtete den Streifschuß. Die Schwellung war zurückgegangen. Die Schmerzen waren nur noch ein Pochen. Es heilt, dachte er mit großer Erleichterung. Ich glaube, ich werde gesund.
Er stand von der Pritsche auf und hinkte in den Shorts zum Fenster. Sein Bein war steif, aber er wußte, mit etwas Training würde das besser werden. Er sah auf die schweigende Stadt hinaus, die nicht mehr Shoyo war, sondern der Leichnam von Shoyo, und er wußte, er mußte die Stadt noch heute verlassen. Weit würde er nicht kommen, aber er würde immerhin einen Anfang machen.
Wohin? Er glaubte es zu wissen. Träume waren Schäume, vorläufig aber würde er nach Nordwesten gehen. Nach Nebraska.
Am Nachmittag des 3. Juli um Viertel nach eins radelte er aus der Stadt hinaus. Am Morgen hatte er einen Rucksack gepackt: einen Vorrat Penicillintabletten, falls er sie brauchen sollte, und Konserven. Besonders Campbeils Tomatensuppe und Ravioli Marke Chef Boyardee, zwei seiner Lieblingsgerichte. Er steckte auch ein paar Schachteln Munition für den Revolver ein und nahm eine Feldflasche mit.
Er ging die Straße entlang und sah in Garagen, bis er gefunden hatte, was er suchte: ein Zehngangfahrrad, das für seine Größe genau richtig war. Er fuhr vorsichtig in einem niedrigen Gang die Main Street hinunter, und allmählich gewöhnte sich das verletzte Bein an die Anstrengung. Er fuhr nach Westen, und sein Schatten folgte ihm auf seinem eigenen schwarzen Fahrrad. Er fuhr an den hübschen, kühl wirkenden Häusern in den Außenbezirken der Stadt vorbei, die im Schatten standen und deren Jalousien für immer zugezogen waren.
In einem Farmhaus zehn Meilen westlich von Shoyo richtete er sich für die Nacht ein. Am Abend des 4. Juli war er schon fast in Oklahoma. An diesem Abend stand er wieder auf dem Hof eines Farmhauses, sah zum Himmel auf und betrachtete einen Meteorschwarm, der die Nacht mit kaltem weißen Feuer zerkratzte.
Er hatte noch nie so etwas Schönes gesehen, dachte er. Was immer vor ihm lag, er war froh, daß er lebte.
41
Larry wachte um halb neun auf; die Sonne schien, und die Vögel zwitscherten. Beides machte ihn fertig. Seit sie New York City verlassen hatten, jeden Morgen Sonnenschein und Vogelzwitschern. Und als besondere Attraktion, als Gratisbonus, wenn man so wollte, roch die Luft sauber und frisch. Das war selbst Rita aufgefallen. Er dachte immer wieder: Besser kann es nicht werden. Aber es wurde immer besser. Bis man sich fragte, was sie dem Planeten angetan hatten. Und man fragte sich, ob die Luft an Orten wie dem Staat Minnesota, Oregon und den westlichen Hängen der Rockies immer so gerochen hatte.
Während er in seiner Hälfte des Doppelschlafsacks unter der niederen Segeltuchdecke des Zwei-Mann-Zelts lag, das sie am Morgen des 2. Juli in Passaic ihrer Reiseausrüstung zugefügt hatten, erinnerte sich Larry, wie AI Spellman, einer der Tattered Remnants, ihn einmal hatte überreden wollen, mit ihm und zwei oder drei anderen Jungs einen Campingausflug zu machen. Sie wollten nach Osten, eine Nacht in Vegas Zwischenstation machen und dann einen Ort namens Loveland, Colorado, besuchen. Sie wollten fünf Tage oder so in den Bergen über Loveland campen.
»Diese >Rocky-Mountain-High< -Scheiße kannst du John Denver überlassen«, hatte Larry gebrummt. »Ihr werdet alle mit Moskitostichen und wahrscheinlich einem Giftefeu-Ausschlag im Arschloch zurückkommen, weil ihr in den Wald scheißen müßt. Wenn ihr es euch anders überlegt und beschließt, fünf Tage im Dunes in Vegas zu campen, ruf mich an.«
Aber vielleicht war es genau so gewesen. Allein, niemand, der einen störte (abgesehen von Rita, und deren Störungen konnte er aushaken, dachte er), gute Luft zum Atmen und nachts Schlaf ohne Herumwälzen, einfach peng, fest eingeschlafen, als hätte man eine mit dem Hammer auf den Kopf bekommen. Keine Probleme, abgesehen von der Frage, wohin man morgen fahren würde und wie schnell. Es war herrlich.
Und dieser Morgen in Bennington, Vermont, auf dem Weg nach Osten über den Highway 9, war ein ganz besonderer Morgen. Es war, bei Gott, der 4. Juli, Unabhängigkeitstag.
Er setzte sich im Schlafsack auf und sah zu Rita hinüber, aber sie schlief noch wie ein Murmeltier, er sah nur die Umrisse ihres Körpers unter dem gesteppten Material und einen Schöpf ihres Haars. Nun, heute morgen würde er sie mit Stil wecken.
Larry zog an seiner Seite den Reißverschluß auf und stieg splitternackt aus dem Schlafsack. Zuerst bekam er eine Gänsehaut, aber dann war die Luft angenehm warm, möglicherweise schon zwanzig Grad. Der Tag würde wieder erste Sahne werden. Er kroch aus dem Zelt und stand auf.