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Neben dem Zelt stand die 200er Harley-Davidson-Maschine in Schwarz und Chrom. Wie Schlafsack und Zelt hatten sie auch die Maschine in Passaic besorgt. Bis dahin hatten sie schon drei Autos gehabt, zwei waren vor fürchterlichen Staus geendet, das dritte vor Nuttey im Schlamm steckengeblieben, als er zwei zusammengestoßenen Lastwagen ausweichen wollte. Das Motorrad war die Lösung. Damit konnte man Unfallstellen langsam umfahren. Wenn man auf einen ernsten Verkehrsstau traf, konnte man auf der Standspur oder dem Fußweg fahren, falls vorhanden. Rita gefiel es nicht - es machte sie nervös, auf dem Soziussitz mitzufahren, und sie klammerte sich verzweifelt an Larry -, aber sie hatte zugeben müssen, daß es die praktischste Lösung war. Der »letzte Verkehrsstau« der Menschheit war ein Ärgernis. Aber seit sie Passaic hinter sich gelassen und das offene Land erreicht hatten, waren sie gut vorangekommen. Am Abend des 2. Juli hatten sie wieder die Grenze des Bundesstaats New York überquert und ihr Zelt am Stadtrand von Quarryville aufgeschlagen, wo sie im Westen mystisch und dunstverhangen die Catskill Mountains sehen konnten. Am Nachmittag des 3. wandten sie sich ostwärts und erreichten in der Dämmerung Vermont. Da waren sie jetzt, in Bennington.

Sie hatten auf einem Hügel vor der Stadt gezeltet, und als Larry jetzt nackt neben dem Motorrad stand und pinkelte, konnte er nach unten sehen und die malerische Neuengland-Stadt bewundern. Zwei hübsche weiße Kirchen, deren Türme aufragten, als wollten sie den blauen Morgenhimmel aufspießen; eine Privatschule, graue efeuüberwucherte Gebäude aus Feldsteinen; eine Fabrik; ein paar Schulgebäude aus roten Ziegeln; viele Bäume in grünem Sommerkleid. Das einzig Störende an diesem Bild war, daß aus dem Schornstein der Fabrik kein Rauch aufstieg und auf der Main Street, die zugleich der Highway war, dem sie folgten, so viele funkelnde Spielzeugautos in seltsamen Winkeln parkten.

Aber in der sonnigen Stille (das heißt, Stille, abgesehen von gelegentlichem Vogelzwitschern), hätte Larry vielleicht auch das Bonmot der verstorbenen Irma Fayette wiederholt, hätte er die Dame gekannt: kein großer Verlust.

Aber es war der 4. Juli, und er schätzte, daß er immer noch Amerikaner war.

Er räusperte sich, spie aus und summte ein Weilchen, bis er die Tonlage gefunden hatte. Er holte tief Luft, genoß den Morgenwind auf der nackten Brust und den Pobacken, und fing schmetternd an zu singen.

»Oh, say, can you see, 

by the dawn's early light, 

What so proudly we bailed 

at the twilight's last gleaming...«

Er sang alle Strophen, während er auf Bennington hinabsah, machte ein paar alberne, burleske Sprünge am Ende, denn mittlerweile würde Rita schon am Zelteingang stehen und ihn anlächeln. Er beendete die Darbietung mit einem zackigen Salut zu dem Haus hinüber, das er für das Gerichtsgebäude hielt, drehte sich um und dachte, die beste Art, ein weiteres Jahr der Unabhängigkeit der guten alten Vereinigten Staaten anzufangen, wäre ein guter alter AllAmerican Fick.

»Larry Underwood, junger Patriot, wünscht dir einen wunderschönen guten M...«

Aber das Zelt war noch geschlossen, und er verspürte ihretwegen wieder momentanen Zorn. Er unterdrückte ihn resolut. Schließlich konnte sie nicht immer auf seiner Wellenlänge sein. Das war alles. Wenn man das erst einmal erkannt und akzeptiert hatte, war man reif genug, eine erwachsene Beziehung aufzubauen. Nach den zermürbenden Erlebnissen im Tunnel hatte er das mit Rita versucht und fand, es war ihm ganz gut gelungen.

Man mußte sich in ihre Lage hineinversetzen, darum ging es. Man mußte einsehen, daß sie viel älter und ihr Leben lang einen gewissen Stil gewohnt gewesen war. Natürlich fiel es ihr viel schwerer, sich an eine Welt anzupassen, die auf den Kopf gestellt war. Die Tabletten zum Beispiel. Er war nicht gerade erfreut gewesen, als er feststellen mußte, daß sie ihre ganze verdammte Apotheke in einem Marmeladenglas mit Schraubverschluss mitgenommen hatte. Gelb Jacken, Quaalud, Darvon und ein Zeug, das sie »meine kleinen Muntermacher« nannte. Die kleinen Muntermacher waren rot. Drei von denen mit einem Schuß Tequila, und man zappelte den ganzen lieben Tag herum. Ihm gefiel das nicht, denn die Schlaff- und Muntermacher würden letztendlich dazu führen, daß man, wie Drogensüchtige das zu nennen pflegten, einen Affen auf dem Rücken hatte. Einen Affen, der schätzungsweise so groß wie King Kong war. Und es gefiel ihm nicht, weil es, wenn man der Sache auf den Grund ging, ja gewissermaßen ein Schlag ins Gesicht für ihn war. Was hatte sie für einen Grund, so nervös zu sein? Warum konnte sie nachts nicht einschlafen? Ihm machte das eindeutig keine Probleme. Wieso gab er denn nicht auf sie acht? Aber klar gab er auf sie acht.

Er ging zum Zelt zurück, zögerte aber einen Augenblick. Vielleicht sollte er sie schlafen lassen. Vielleicht war sie erschöpft. Aber...

Er sah nach unten und betrachtete Schwanzi, und Schwanzi wollte sie eigentlich nicht schlafen lassen. Das olle Star-Speckled Banana zu singen hatte ihn regelrecht geil gemacht. Also...

»Rita?«

Nach der frischen Morgenluft draußen traf es ihn wie ein Schlag; er mußte vorhin noch halb geschlafen haben, sonst hätte er es gleich gemerkt. Der Geruch war nicht übermäßig stark, weil das Zelt gut belüftet war, aber er war unverkennbar: der süßsaure Geruch von Erbrochenem und Krankheit.

»Rita?« Seine Unruhe wuchs, als er sie so reglos im Schlafsack liegen sah, aus dem nur der Haarschopf herausschaute. Er kroch auf Händen und Knien zu ihr hinüber, und der Geruch von Erbrochenem war jetzt so stark, daß sich sein Magen zusammenkrampfte. »Rita, ist alles in Ordnung? Wach auf, Rita!«

Keine Bewegung.

Er rollte sie herum und sah, daß der Reißverschluß des Schlafsacks halb aufgezogen war, als hätte sie nachts versucht herauszukriechen, vielleicht weil sie wußte, was ihr geschah; als hätte sie es versucht, aber es sei ihr nicht gelungen, und er hatte die ganze Zeit friedlich neben ihr geschlafen, Mr. Rocky Mountain High persönlich. Als er sie herumrollte, fiel ihr eine ihrer Tablettenflaschen aus der Hand, ihre Augen waren stumpfe, wolkige Murmeln hinter halb geschlossenen Lidern, und ihr Mund war voll grüner Kotze, an der sie erstickt war.

Er sah ihr, wie ihm schien, lange in das tote Gesicht. Sie waren fast Nase an Nase, das Zelt schien immer heißer zu werden, so heiß wie ein Dachboden an einem Augustnachmittag, bevor die kühlenden Gewitterschauer einsetzen. Sein Kopf schien immer mehr anzuschwellen. Ihr ganzer Mund war voll grüner Scheiße, und er konnte den Blick kaum abwenden. Die Frage, die in seinem Kopf kreiste wie das mechanische Kaninchen um eine Hunderennbahn, war: Wie lange habe ich hier neben ihr geschlafen, als sie schon tot war? Ekelhaft, Mann. Eeee-kelhaft.

Seine Erstarrung löste sich, er kroch aus dem Zelt und schürfte sich beide Knie auf, als er von der Zeltbahn auf den steinigen Boden kam. Er dachte schon, er müßte selber kotzen, und kämpfte dagegen an, er haßte Kotzen mehr als alles andere, und dann dachte er: Mann, ich bin doch reingegangen, um sie zu FICKEN! Und da kam ihm alles auf einmal hoch, und er kroch von der dampfenden Schweinerei weg und weinte und ekelte sich vor dem sauren Geschmack in Mund und Nase.

Er dachte fast den ganzen Morgen an sie. Er empfand eine gewisse Erleichterung darüber, daß sie gestorben war - eine sehr große sogar. Das würde er keinem Menschen je erzählen. Es bestätigte alles, was seine Mutter über ihn gesagt hatte und Wayne Stukey und sogar die dumme Pute mit ihrer Wohnung in der Nähe der Fordham University. Larry Underwood, der Blitzer von Fordham.

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