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Nick schüttelte energisch den Kopf.

»Okay«, sagte Tom und wandte sich beruhigt seinem Spielzeug zu. Ehe er sich zurückhalten konnte, strich Nick dem Mann mit der Hand durchs Haar. Tom sah auf und lächelte schüchtern. Nick lächelte zurück. Nein, er konnte ihn nicht einfach zurücklassen. Das stand fest.

Es war schon fast Mittag, bevor er ein Fahrrad fand, das ihm für Tom geeignet schien. Er hatte nicht erwartet, daß es auch nur annähernd so lange dauern würde, aber überraschend viele Leute hatten ihre Häuser, Garagen und Außengebäude abgeschlossen. In den meisten Fällen war er darauf angewiesen, durch schmutzige, spinnwebverhangene Fenster in dunkle Garagen zu spähen in der Hoffnung, das richtige Rad zu finden. Während seiner Suche war er noch einmal zu Western Auto zurückgegangen, aber das hatte wenig genützt; im Schaufenster standen nur Damen- und Herrenräder mit Dreigangschaltung, alles andere war nicht montiert. Was er suchte, fand er schließlich in einer kleinen, freistehenden Garage am südlichen Stadtrand. Die Garage war verschlossen, aber sie hatte ein Fenster, das so groß war, daß er hineinkriechen konnte. Nick zertrümmerte die Scheibe mit einem Stein und entfernte sorgfältig die restlichen Scherben aus dem alten, brüchigen Kitt. In der Garage herrschten stickige Hitze und ein pelziger Öl- und Staubgeruch. Das Fahrrad, ein altmodisches Schwinn-Knabenrad, stand neben einem zehn Jahre alten Mercedes -Kombi. Bei meinem Glück wird das verdammte Rad kaputt sein, dachte Nick. Keine Kette, platte Reifen, irgend so was. Aber diesmal hatte er tatsächlich Glück. Das Rad lief einwandfrei. Die Reifen waren aufgepumpt und hatten ein gutes Profil; alle Schrauben waren fest angezogen. Kein Gepäckkorb, da würde er Abhilfe schaffen müssen. Aber es hatte einen Kettenschutz, und an der Wand hing zwischen einem Rechen und einer Schneeschippe ein unerwarteter Bonus: eine fast neue Briggs-Luftpumpe.

Er suchte weiter und fand eine Dose Three-In-One-Öl auf einem Regal. Nick setzte sich auf den rissigen Betonboden, achtete nicht mehr auf die Hitze und ölte die Kette und beide Naben. Als er damit fertig war, schraubte er das Three-In-One wieder zu und verstaute es sorgfältig in der Hosentasche.

Er band die Luftpumpe mit einer Strohschnur auf dem Gepäckträger über dem Hinterrad des Schwinn fest, schloß die Garagentür auf und schob es hinaus. So gut hatte frische Luft noch nie gerochen. Er schloß die Augen, atmete tief ein, rollte das Rad auf die Straße, stieg auf und fuhr langsam die Main Street hinunter. Das Rad lief ausgezeichnet. Genau das Richtige für Tom... vorausgesetzt, er konnte überhaupt fahren.

Er stellte es neben seinem Raleigh ab und ging in den Five-andDime-Supermarkt. Hinten im Laden, zwischen den Sportartikeln, fand er einen größeren Drahtkorb, klemmte ihn unter den Arm und wollte gerade gehen, als ihm eine große verchromte Hupe mit einem dicken roten Gummiball auffiel. Nick legte sie in den Korb und ging zur Eisenwarenabteilung, um einen Schraubenzieher und einen verstellbaren Schraubenschlüssel zu besorgen. Dann trat er wieder nach draußen. Tom lag friedlich ausgestreckt auf dem Marktplatz unter dem Zweiten-Weltkrieg-Soldaten und döste.

Nick befestigte Korb und Hupe an der Lenkstange des Schwinn. Er kehrte ins Five-and-Dime zurück, kam mit einer großen Einkaufstasche wieder heraus, ging damit zum A&P und füllte die Tasche mit Dosenfleisch und Obstund Gemüsekonserven. Er packte gerade einige Dosen Chilibohnen ein, als er einen Schatten am Gang vorbeihuschen sah, in dem er stand. Wäre er nicht taub gewesen, hätte er bemerkt, daß Tom inzwischen das Fahrrad entdeckt hatte. Das heisere, langgezogene  Hauuu-UUU-Gaaa! der Hupe hallte durch die Straße, begleitet von Toms fröhlichem Kichern.

Nick trat durch die Tür des Supermarkts nach draußen und sah Tom stolz die Main Street entlangsausen; das blonde Haar flatterte, sein Hemd wehte hinter ihm her, und er quetschte die Hupe, als würde sein Leben davon abhängen. An der Arco-Tankstelle am Ende der Ladenzeile wendete er und kam wieder zurückgestrampelt. Er grinste breit und triumphierend. Die Fisher-Price-Tankstelle hatte er in den Korb am Lenker gestellt. Seine Hosentaschen und die Taschen des Khakihemds waren vollgestopft mit maßstabgetreuen Corgi-Spielzeugautos. Die Sonne warf funkelnde helle, drehende Kreise auf die Speichen. Ein wenig traurig wünschte sich Nick, er könnte den Klang der Hupe hören, um festzustellen, ob er ihm genauso gefallen würde, wie er Tom zu gefallen schien.

Tom winkte ihm zu und radelte weiter die Straße entlang. Am anderen Ende des Einkaufsviertels wendete er wieder, drückte dabei aber unablässig auf die Hupe. Nick streckte die Hand aus wie ein Polizist, der jemanden anhält. Tom kam mit dem Rad schlitternd vor ihm zum Stehen. Große Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Der Gummischlauch der Luftpumpe wippte. Tom keuchte und grinste.

Nick deutete zur Stadt hinaus und winkte: Tschüs.

»Kann ich die Tankstelle immer noch mitnehmen?«

Nick nickte und streifte Tom den Henkel der Tasche über den Stiernacken.

»Fahren wir gleich?«

Nick nickte wieder. Machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis.

»Nach Kansas City?«

Nick schüttelte den Kopf.

»Wohin wir wollen?«

Nick nickte. Ja. Wohin wir wollen, dachte er, aber wahrscheinlich wird es irgendwo in Nebraska sein.

»Mann!« sagte Tom glücklich. »Okay! Klar! Mann!«

Sie radelten auf der Route 283 Richtung Norden und waren erst zweieinhalb Stunden gefahren, als im Westen Gewitterwolken aufzogen. Der Sturm, der auf einem gazeartigen Regenschleier ritt, war rasch über ihnen. Nick konnte den Donner nicht hören, sah aber gabelförmige Blitze aus den Wolken herausschießen. Sie waren so grell, daß sie blau-purpurnes Flimmern vor den Augen hinterließen. Als sie sich dem Stadtrand von Rosston näherten, wo Nick auf der Route 64 nach Westen abbiegen wollte, verschwand der Regenschleier unter den Wolken, und der Himmel nahm eine stille, bedrohliche Gelbfärbung an. Der Wind, der ihm kühl und frisch gegen die linke Wange geweht hatte, flaute völlig ab. Nick wurde von einer extremen Nervosität gepackt, ohne zu wissen warum, und handelte obendrein seltsam ungeschickt. Niemand hatte ihm je gesagt, daß zu den wenigen Instinkten, die der Mensch noch mit den Tieren teilt, genau dies die Reaktion auf ein plötzliches und radikales Absinken des Luftdrucks war.

Dann zupfte Tom ihn am Ärmel, zupfte heftig. Nick blickte ihn an. Er stellte verblüfft fest, daß alle Farbe aus Toms Gesicht gewichen war. Seine Augen waren große, schwebende Untertassen.

» Tornado!« schrie Tom. » Da kommt ein Tornado

Nick suchte nach einer Windhose, sah aber keine. Er wandte sich wieder Tom zu, um ihn zu beruhigen. Aber Tom war schon verschwunden, fuhr mit dem Rad in ein Feld rechts von der Straße und walzte einen ungleichmäßigen, flachen Pfad durch das hohe Gras.

Verdammter Blödmann, dachte Nick wütend. Du wirst eine von den Achsen brechen!

Tom fuhr auf eine Scheune mit Silo zu, die sich am Ende eines etwa eine Viertelmeile langen Feldwegs befand. Nick, der noch immer seltsam nervös war, fuhr mit seinem Rad ein Stück weiter den Highway entlang, hob es über das Viehgatter und strampelte dann den Feldweg zur Scheune hinunter. Toms Fahrrad lag davor im Sand. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Ständer runterzuklappen. Diesen Umstand hätte Nick schlichter Vergeßlichkeit zugeschrieben, hätte er nicht vorher mehrmals gesehen, wie Tom den Klappständer benützte. Er hat vor Angst sein letztes bißchen Verstand verloren, dachte Nick.

Weil er sich aber selbst so unbehaglich fühlte, drehte er sich schnell noch einmal nach Westen um; und als er sah, was sich von dort näherte, blieb er wie erstarrt stehen.

Eine schreckliche Finsternis raste aus westlicher Richtung auf sie zu. Keine Wolke; vielmehr eine vollkommene Abwesenheit von Licht. Das Gebilde hatte die Form einer Windhose und schien auf den ersten Blick dreihundert Meter hoch zu sein. Am oberen Ende war sie breiter als unten; das untere Ende berührte nicht ganz den Boden. Am Gipfel schienen selbst die Wolken davor zu fliehen, als besäße das Gebilde eine unerklärliche, ekelerregende, abstoßende Macht.

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