Während Nick zusah, berührte der Wirbel etwa eine Dreiviertelmeile entfernt den Boden, und ein langes blaues Gebäude mit Wellblechdach - wahrscheinlich eine KFZ-Werkstatt oder ein Geräteschuppen - explodierte mit einem lauten Knall. Nick konnte es nicht hören, natürlich nicht, aber er spürte die Erschütterung, die seine Beine zittern ließ. Und das Gebäude schien nach innen zu explodieren, als hätte der Trichter sämtliche Luft daraus gesogen. Im nächsten Moment brach das Blechdach in zwei Teile. Die Bruchstücke schössen in die Höhe und wirbelten wie verrückt gewordene Tänzer durch die Luft. Nick beugte sich fasziniert vor und folgte ihrer Bahn.
Ich sehe vor mir das Schlimmste aus meinen Träumen, dachte Nick, und es ist gar kein Mann, auch wenn es manchmal wie ein Mann aussieht. In Wirklichkeit ist es ein Tornado. Ein allmächtiger, großer schwarzer Wirbel, der aus dem Westen herübertobt und alles und jeden verschlingt, der das Unglück hat, in seine Bahn zu geraten. Es...
Dann wurde er an beiden Oberarmen gepackt und buchstäblich von den Füßen gerissen und in die Scheune gezerrt. Er drehte sich zu Tom Cullen um und war einen Moment verblüfft, ihn zu sehen. Er war so von der Windhose fasziniert gewesen, daß er darüber ganz vergessen hatte, daß Tom Cullen überhaupt existierte.
»Runter!« keuchte Tom. »Rasch! Rasch! O meine Fresse, ja! Tornado! Tornado!«
Jetzt endlich war Nick wieder bei vollem Verstand und hatte Angst, er war aus dem tranceähnlichen Zustand herausgerissen worden, in dem er sich befunden hatte, und wußte wieder, wo er war und mit wem. Während er sich von Tom zu der Treppe führen ließ, die in den Sturmkeller der Scheune hinunterführte, spürte er eine seltsame, trommelnde Vibration. Sie war einem echten Geräusch näher, als er es jemals erlebt hatte. Gleich einem bohrenden Schmerz im Zentrum seines Gehirns. Und dann, als er Tom die Treppe hinunterfolgte, sah er etwas, das er sein ganzes Leben lang nie mehr vergessen sollte: Die Wand der Scheune wurde weggefetzt; Brett für Brett wurde herausgezogen und in die wolkenverhangene Luft gezerrt wie eine Reihe fauler Zähne, die von unsichtbaren Kräften herausgerissen wurden. Das Heu am Boden stieg wirbelnd gleich einem Dutzend Miniaturtornados empor, raste im Kreis, kippte, rotierte. Die pulsierende Vibration wurde noch beharrlicher, stärker. Dann riß Tom eine schwere Holztür auf und stieß ihn hinein. Nick roch feuchten Schimmel und Verfall. Im letzten Augenblick des Lichts sah er, daß sie sich den Sturmkeller mit einer Familie rattenzerfressener Leichen teilten. Dann schlug die Tür zu, und es herrschte völlige Dunkelheit. Die Vibration wurde schwächer, liess aber nicht einmal hier unten völlig nach.
Panik stahl sich mit ausgebreitetem Mantel über ihn und hüllte ihn ein. In der Schwärze waren seine Sinneswahrnehmungen auf Geruch und Tastsinn beschränkt, aber keiner der beiden übermittelte Botschaften, die tröstlich waren. Er konnte das unablässige Vibrieren der Dielen unter seinen Füßen spüren, und es roch nach Tod. Tom umklammerte blind Nicks Hand, und Nick zog den geistig zurückgebliebenen Mann an sich. Er spürte Tom zittern und fragte sich, ob Tom weinte oder versuchte, mit ihm zu sprechen. Der Gedanke linderte seine eigene Angst ein wenig; er legte Tom einen Arm um die Schultern. Tom erwiderte die Geste; so standen sie aufrecht in der Dunkelheit und klammerten sich aneinander. Die Vibration unter Nicks Füßen wurde stärker; sogar die Luft auf seinem Gesicht schien jetzt zu zittern. Tom klammerte sich noch fester an ihn. Blind und taub wartete Nick darauf, was als nächstes passieren würde. Kurz schoß der Gedanke durch sein Hirn, daß er sein ganzes Leben in Finsternis und Stille hätte verbringen müssen, wenn Ray Booth auch das andere Auge erwischt hätte. Wäre das der Fall gewesen, überlegte Nick, hätte er sich wahrscheinlich schon vor Tagen eine Kugel in den Kopf gej agt und der Sache ein Ende gemacht.
Später konnte Nick kaum seiner Uhr glauben. Sie bestand beharrlich darauf, daß er und Tom alles in allem nur eine Viertelstunde in dem Keller verbracht hätten. Also mußte es wohl so sein, da die Uhr einwandfrei funktionierte. Er hatte in seinem Leben noch nie so unmittelbar erfahren, wie subjektiv, wie dehnbar die Zeit wirklich ist. Ihm kam es so vor, als hätte es mindestens eine Stunde gedauert, eher sogar zwei oder drei. Und je mehr Zeit verging, desto mehr wuchs in ihm die Überzeugung, daß er und Tom nicht allein im Sturmkeller gewesen waren. Sicher, die Leichen - ein armer Teufel hatte seine Familie hier heruntergebracht, weil er wahrscheinlich gedacht hatte, sie hatten hier andere Naturkatastrophen überstanden und könnten auch diese überstehen -, aber Nick meinte nicht die Leichen. Für Nick war ein Leichnam inzwischen nur eine Sache, nichts anderes als ein Stuhl oder eine Schreibmaschine oder ein Teppich. Ein Leichnam war nur ein lebloser Gegenstand, der Platz wegnahm. Nein, er hatte die Präsenz eines anderen Wesens gespürt, und er wurde immer überzeugter davon, wer - oder was - es gewesen war.
Es war der dunkle Mann, der Mann, der in seinen Träumen zum Leben erwachte, die Kreatur, deren Seele er im schwarzen Herzen des Zyklons gespürt hatte.
Irgendwo... möglicherweise in der Ecke oder direkt hinter ihnen... beobachtete er sie. Und wartete. Im richtigen Augenblick würde er sie berühren, und sie würden beide... was? Selbstverständlich vor Angst verrückt werden. Genau das. Er konnte sie sehen. Nick war sicher, daß er sie sehen konnte. Er hatte Augen, die im Dunkeln sehen konnten, wie Katzenaugen oder die eines seltsamen außerirdischen Wesens. Wie die Kreatur in diesem Film, Predator. Ja - genau so. Der dunkle Mann konnte Farbtöne des Spektrums sehen, die dem menschlichen Auge verborgen blieben; für ihn lief alles zeitlupenhaft langsam ab, in roter Farbe, als wäre die ganze Welt in Blut getaucht.
Anfangs konnte Nick seine Hirngespinste von der Wirklichkeit trennen, aber je mehr Zeit verging, um so überzeugter wurde er, dass die Hirngespinste Wirklichkeit waren. Er bildete sich ein, er könnte den Atem des dunklen Mannes im Nacken spüren.
Er wollte gerade zur Tür springen, sie aufreißen und nach oben fliehen, egal welche Folgen es hatte, als Tom ihm die Entscheidung abnahm. Plötzlich war der Arm um Nicks Schulter verschwunden. Im nächsten Moment knallte die Tür des Sturmkellers auf, grelles, helles Licht strömte herein, so daß Nick eine Hand heben und das gesunde Auge abschirmen mußte. Er erhaschte gerade noch einen geisterhaften, wabernden Blick auf Tom Cullen, der die Treppe hinauftaumelte, dann folgte er ihm und ertastete sich den Weg durch die Helligkeit. Als er oben ankam, hatte sich das Auge an das grelle Licht gewöhnt.
Nick war sicher, daß das Licht nicht so hell gewesen war, als sie nach unten gegangen waren. Daß er recht hatte und warum, erfuhr er Augenblicke später. Das Dach war von der Scheune gerissen worden. Es schien beinahe chirurgisch exakt amputiert worden zu sein; so sauber, daß keinerlei Splitter zu sehen waren und kaum etwas auf dem Boden lag, den das Dach einst abgedeckt hatte. Drei Trägerbalken hingen an der Seite des Schobers herunter; die Wände waren kahl, fast alle Bretter hatte der Sturm weggerissen. Nick hatte den Eindruck, im Skelett eines prähistorischen Ungeheuers zu stehen.
Tom hatte nicht haltgemacht, um den Schaden zu begutachten. Er floh aus der Scheune, als säße ihm der Teufel im Nacken. Er drehte sich nur einmal um; seine Augen waren groß und spiegelten auf fast lächerlich-komische Weise sein Entsetzen wider. Nick konnte einem Blick über die Schulter in den Sturmkeller nicht widerstehen. Die Treppe erstreckte sich hinunter in die Schatten, die Stufen waren aus altem, rissigen Holz, jede hing in der Mitte durch. Er konnte verstreutes Stroh auf dem Boden sehen und zwei Händepaare, die aus, dem Schatten herausgriffen. Ratten hatten die Finger bis auf die Knochen abgenagt.
Falls noch jemand da unten war, konnte Nick ihn nicht sehen. Er wollte es auch nicht.