Nick fragte sich müßig, was Tom wohl getan hätte, wäre sie nicht offen gewesen. Er vermutete, daß Tom seine Skrupel vergessen oder aus gegebenem Anlaß einmal außer acht gelassen hätte, wäre sein Hunger groß genug gewesen. Aber was sollte aus ihm werden, wenn die Vorräte aufgebraucht waren?
Aber das bekümmerte ihn eigentlich nicht so sehr an Tom. Vielmehr war es der hilflose Eifer, mit dem der Mann ihn begrüßt hatte. Zurückgeblieben mochte er sein, dachte Nick, aber nicht so zurückgeblieben, daß er keine Einsamkeit verspürte. Seine Mutter und deren Freundin, die sich um ihn gekümmert hatte, waren beide tot. Sein Dad war schon lange abgehauen. Sein Arbeitgeber, Mr. Norbutt, und alle anderen in May hatten sich eines Nachts, während Tom schlief, alle heimlich nach Kansas City davongemacht und ihn, Tom, allein zurückgelassen, damit er wie ein einsamer Geist die Main Street auf und ab gehen konnte. Und jetzt machte er Sachen, die nichts für ihn waren - zum Beispiel Whiskey trinken. Wenn er sich wieder betrank, verletzte er sich vielleicht. Und wenn er sich verletzte und niemand da war, der sich um ihn kümmerte, wäre das möglicherweise sein Ende.
Aber... ein Taubstummer und ein Mann, der geistig behindert war? Welchen Nutzen konnten sie schon füreinander haben? Ein Typ, der nicht sprechen, und einer, der nicht denken konnte. Nein, das war ungerecht, Tom konnte immerhin ein bißchen denken, aber er konnte nicht lesen, und Nick machte sich keine Illusionen, daß er es ziemlich bald satt haben würde, für Tom Cullen Pantomimen aufzuführen. Nicht, daß es Tomsatt haben würde. Meine Fresse, nein.
Auf dem Gehweg vor dem Eingang zum Park blieb er stehen und steckte die Hände in die Taschen. Nun, überlegte er, ich kann wenigstens die Nacht über bei ihm bleiben. Auf eine Nacht kommt es nicht an. Ich kann ihm wenigstens was Anständiges zu essen kochen.
Davon ein wenig aufgemuntert, machte er sich auf die Suche nach Tom.
Nick schlief in dieser Nacht im Park. Er wußte nicht, wo Tom schlief, aber als er am nächsten Morgen aufwachte, etwas feucht vom Tau, aber ansonsten in ausgezeichneter Verfassung, sah er, als er über den Platz ging, Tom gleich als allererstes; Tom hatte sich über eine Flotte Corgi-Spielzeugautos und eine große Texaco-Tankstelle aus Plastik gebeugt.
Tom schien zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß es nicht schlimm war, wenn er schon in Norton's Drugstore einbrach, auch anderswo einzubrechen. Er saß auf dem Bordstein vor dem Fiveand-Dime und hatte Nick den Rücken zugedreht. Etwa vierzig Modellautos waren an der Bordsteinkante aufgereiht. Daneben lag der Schraubenzieher, mit dem Tom den Schaukasten aufgestemmt hatte. Jaguar, Mercedes Benz, Rolls-Royce, ein maßstabgetreuer Bentley mit limonengrüner Motorhaube, ein Lamborghini, ein Cord, ein acht Zentimeter langer Pontiac Bonneville, eine Corvette, ein Maserati und, Gott behüte und beschütze uns, ein Moon Baujahr 1933. Tom hatte sich gebannt über sie alle gebeugt und fuhr mit einem nach dem anderen in die Tankstelle und wieder heraus, nachdem er sie an der Miniaturzapfsäule vollgetankt hatte. Nick sah, daß sich in der Werkstatt eine funktionsfähige Hebebühne befand; ab und zu schob Tom ein Auto dorthin, hievte es hoch und tat so, als würde er darunter etwas reparieren. Hätte Nick hören können, hätte er in der vollkommenen Stille die Laute von Tom Cullens Phantasie vernommen - das vibrierende brrrrrmit den Lippen, wenn er ein Auto auf den Asphalt von Fisher-Price fuhr, das tschk-tschk-tschk-dinngg! der Zapfsäule, das Ssssssss, wenn die Hebebühne herauf und herunter fuhr. So bekam er nur Bruchstücke der Gespräche zwischen Tankstellenbesitzer und den winzigen Menschen in den winzigen Autos mit: Volltanken, Sir? Normal? Klar doch! Ich mach' Ihnen noch die Scheibe sauber, Ma'am. Ich glaube, es ist der Vergaser. Wollen die Kiste mal hochbocken und den Auspuff nachsehen. Toiletten? Klar doch! Gleich da um die Ecke!
Und darüber, meilenweit in sämtliche Richtungen, der Himmel, den Gott für dieses winzige Stück von Oklahoma erschaffen hatte.
Nick dachte: Ich kann ihn nicht zurücklassen. Das kann ich nicht. Und plötzlich überkam ihn eine bittere und völlig unerwartete Traurigkeit, eine so tiefgehende Empfindung, daß er einen Augenblick fürchtete, weinen zu müssen.
Sie sind nach Kansas City gegangen, dachte er. Du hast recht, Tom. Sie sind alle nach Kansas City gegangen.
Nick ging über die Straße und tippte Tom am Arm. Tom sprang auf und sah über die Schulter. Ein breites, schuldbewußtes Lächeln teilte seine Lippen, Röte stieg aus dem Hemdkragen empor.
»Ich weiß, ist für kleine Jungs und nicht für erwachsene Männer«, sagte er. »Ich weiß, meine Fresse, ja, Daddy hat's mir gesagt.«
Nick zuckte die Achseln, lächelte und breitete die Arme aus. Tom schien sehr erleichtert zu sein.
»Das gehört jetzt mir. Ist meins, wenn ich's will. Wenn du in den Drugstore gekonnt hast und dir was holen, hab' ich auch in 'n Fiveand-Dime gekonnt und mir was holen. Meine Güte, stimmt doch, oder? Ich muß es nicht zurücktun, oder?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Meins«, sagte Tom glücklich und wandte sich wieder der Tankstelle zu. Nick stieß ihn wieder an, und Tom sah auf. »Was?«
Nick zog ihn am Ärmel, und Tom stand gehorsam auf. Nick führte ihn die Straße hinunter zu der Stelle, wo sein Fahrrad auf dem Klappständer lehnte. Er deutete auf sich, dann auf das Fahrrad. Tom nickte.
»Klar. Das Rad ist Ihrs. Die Texaco-Tankstelle ist meine. Ich nehm'
Ihr Rad nicht und Sie nicht meine Texaco-Tankstelle. Meine Fresse, nein!«
Nick schüttelte den Kopf. Er deutete auf sich. Auf das Fahrrad. Dann die Main Street entlang. Dann winkte er mit den Fingern: Tschüs. Tom wurde ganz still. Nick wartete. Tom sagte zögernd: »Sie wollen wegfahren, Mister?«
Nick nickte.
»Das will ich nicht!« platzte Tom heraus. Seine Augen waren groß, sehr blau und glänzten von Tränen. »Ich mag Sie! Ich will nicht, dass Sie auch nach Kansas City gehen!«
Nick zog Tom zu sich und legte einen Arm um ihn. Deutete auf sich. Auf Tom. Auf das Fahrrad. Zur Stadt hinaus.
»Kapier' ich nicht«, sagte Tom.
Geduldig wiederholte Nick alles. Diesmal winkte er wieder zum Abschied, packte Toms Hand in einer plötzlichen Eingebung und winkte auch damit: Tschüs.
»Sie möchten, daß ich mitkomme?« fragte Tom. Ein Lächeln ungläubiger Fassungslosigkeit erhellte sein Gesicht. Nick nickte erleichtert.
»Klar!« rief Tom. »Tom Cullen geht mit! Tom...« Er verstummte, der glückliche Gesichtsausdruck wurde unsicher.
»Darf ich meine Tankstelle mitnehmen?«
Nick dachte einen Augenblick nach und nickte dann.
»Meine Fresse!« Toms Grinsen kam zurück wie die Sonne, die durch Wolken bricht. »Tom Cullen geht mit.«
Nick führte ihn zum Fahrrad. Er deutete auf Tom, dann auf das Rad.
»Mit so einem bin ich noch nie gefahren«, sagte Tom zweifelnd und betrachtete die Gangschaltung und den hohen schmalen Sitz.
»Lieber nicht. Von so 'nem tollen Rad würde Tom Cullen runterfallen.«
Aber Nick war ziemlich erleichtert. Mit so einem bin ich noch nie gefahren bedeutete, daß er schon mal mit irgendeinem anderen Rad gefahren war. Er mußte nur ein ganz normales Fahrrad finden. Mit Tom würde er langsamer vorankommen, das war nicht zu vermeiden, aber vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden. Und warum überhaupt die Eile? Träume sind Schäume. Andererseits empfand er einen inneren Zwang, sich zu beeilen, so stark und doch so unbestimmbar; ein Befehl seines Unterbewußtseins. Er führte Tom zu dessen Tankstelle zurück. Er deutete darauf und nickte Tom lächelnd zu. Tom hockte sich eifrig hin und wollte nach ein paar Autos greifen, aber dann hielten seine Hände inne. Er blickte besorgt und mit offensichtlichem Mißtrauen zu Nick auf. »Sie gehen doch nicht ohne Tom Cullen, oder?«