Wieder schaute er zur Kimm. Die Segel waren schon viel näher, und er konnte erkennen, wie sich die glänzenden Reihen der langen Riemen in exaktem Gleichtakt hoben und senkten. Die hellen Lateinersegel wirkten noch bedrohlicher; und er konnte sich die freudige Erwartung der Piraten angesichts einer so leichten Beute ausmalen.
«Was sollen wir tun?«fragte Witrand und breitete die Hände aus.»Sie würden auch Sie töten, capitaine, wir müssen zusammenhalten.»
Bolitho hob die Schultern.»Normalerweise würde ich Boote zu Wasser lassen und versuchen, das Schiff umzudrehen. Dann könnten wir ihnen eine Breitseite verpassen. Aber Boote haben wir nicht, außer dem kleinen, mit dem ich an Bord gekommen bin. «Er rieb sich das Kinn.»Jedenfalls wäre das ziemlich viel verlangt.»
«Aber um Gottes willen, Mann! Wollen Sie hier stehen und nichts tun?«Er deutete auf die stummen Zuschauer, denen langsam klar wurde, welch neue Bedrohung mit den immer näher herangleitenden Fahrzeugen auf sie zukam.»Und was wird mit denen da — eh? Wollen Sie sie umkommen lassen? Sie der Folter der Vergewaltigung aussetzen? Sie müssen doch irgendwas tun!»
Bolitho lächelte grimmig.»Sie sind wirklich rührend um ihr Leben besorgt. Seit Beginn unserer Bekanntschaft haben Sie sich in mancher Hinsicht verändert. «Ehe der Franzose antworten konnte, befahl er scharf:»Lassen Sie sofort meine Offiziere und Matrosen frei und geben Sie ihnen die Waffen wieder!«Und als es in Witrands Augen wütend aufblitzte, sagte er grob:»Sie haben keine Wahl, m'sieur. Und wenn wir heute sterben sollen, dann möchte ich das lieber mit dem Degen in der Hand.»
Witrand nickte.»Das ist wahr. Einverstanden.»
«Dann lassen Sie Senior Pareja nach achtern bringen. Er kann dolmetschen.»
Witrand winkte bereits einen Matrosen heran.»Und der Wind?«fragte er.»Wird Wind aufkommen?»
«Gegen Abend vielleicht, wenn es kühler wird. «Bolitho sah ihn bedeutsam an.»Aber wenn wir es nicht schaffen, dann spielt auch das keine Rolle mehr.»
Minuten später waren Meheux und die anderen bei ihm auf der Kampanje. Ashton hatte noch Schmerzen und stützte sich schwer auf des Leutnants Arm.
Auf dem Hauptdeck sah Bolitho den ebenfalls befreiten Unteroffizier McEwen sowie sechs Matrosen — die anderen waren wohl noch so betrunken, daß sie nicht hochzukriegen waren. Vielleicht starben sie, ohne eine Ahnung zu haben, was überhaupt los war… Um so besser für sie, dachte Bolitho.
«Sie brauchen mich, Captain?«Das war Luis Pareja, schüchtern und furchtsam. Bolitho lächelte ihn freundlich an. Er war unter Bewachung gewesen, hatte also keine privaten Abmachungen mit dem Franzosen getroffen.»Sie müssen jedem sagen, was ich von ihm will«, erklärte Bolitho, und Pareja warf einen angstvollen Blick über die Reling.»Von Ihnen wird sehr viel abhängen, Senor. Davon, wie Sie sprechen, und was Sie dabei für ein Gesicht machen. «Er lächelte wieder.»Also gehen wir zusammen aufs Achterdeck, ja?»
Pareja blinzelte zu ihm empor.»Zusammen, Captain?«Dann nickte er heftig; und die plötzliche Entschlossenheit auf seinem runden Gesicht wirkte rührend.
Erregt flüsterte Meheux:»Wie können wir sie abschlagen, Sir?»
«Holen Sie unsere Männer heran und stellen Sie aus ihnen eine Geschützbedienung zusammen. Die beste Kanone kommt in die Achterkajüte. Sie müssen sie da irgendwie montieren — schwierig, aber es muß klappen, und zwar sehr schnell. In einer Stunde können diese Boote in Schußweite sein. Vielleicht schon eher. «Er faßte den Leutnant bei seinem zerfetzten Rock.»Und hissen Sie unsere Flagge wieder, Mr. Meheux!«Witrand öffnete schon den Mund zum Protest, schwieg aber und wandte sich zur Reling.»Wenn wir kämpfen«, schloß Bolitho,»dann unter unserer eigenen Flagge.»
Allday sah zu, wie die Flagge am Großmast emporstieg, und bemerkte grinsend:»Ich würde eine ganze Menge darauf wetten, daß diese gottverdammten Seeräuber noch nie so ein Schiff des Königs gesehen haben wie diese alte Tante!»
Bolitho sah Pareja an.»Und jetzt, Senor, kommen Sie mit. Heute wollen wir zusammen ein wenig Marinegeschichte machen — eh?»
Aber als er in all die zu ihm emporgerichteten Gesichter sah, die Frauen, die ihre Kinder an sich preßten, ihre wachsende Verzagtheit und Angst, da konnte er nur mit Mühe und Not seine wahren Empfindungen vor ihnen verbergen.
X Dem Tode entronnen
«Jetzt dauert es nicht mehr lange, Sir. «Grindle hakte die Daumen in den Gürtel und beobachtete gelassen die sich nähernde Flottille. In der letzten halben Stunde hatten die Boote sich zur Linie formiert; das Manöver ging ohne Eile oder sichtbare Anstrengung vor sich, als hätten sie alle Zeit der Welt. Als sie jetzt stetig im Bogen auf die Backbordseite der Navarra zufuhren, sahen sie aus wie ein historischer Aufzug oder wie Rudergaleeren. Dieser Eindruck wurde noch durch das dumpfe Trommeln verstärkt, das den Männern an den Riemen ermöglichte, gleichmäßig Takt zu halten.
Die vorderste Schebecke war noch etwa eine Meile entfernt, aber schon konnte Bolitho an ihrem langen, schnabelförmigen Bug den Pulk dunkelhäutiger Gestalten erkennen, die wahrscheinlich das Buggeschütz für den ersten Angriff fertig machten. Die Segel waren bei allen Booten aufgegeit, und er konnte am Vormast den blauen, gespaltenen Wimpel mit dem Halbmondemblem ausmachen.
Er riß sich vom Anblick der stetig und zielbewußt näher kommenden Boote los und sagte zu Grindle:»Ich gehe mal kurz unter Deck. Passen Sie gut auf, bis ich zurück bin.»
Während er den Kampanjeniedergang hinabstieg, versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, was er bis jetzt getan hatte, und suchte nach einem Loch in seinem fadenscheinigen Verteidigungsplan. Als Pareja seine Befehle übersetzte, hatte er die Gesichter sowohl der Mannschaft als auch der Passagiere genau beobachtet. Für sie war jeder Plan besser, als hilflos dazustehen wie Schafe, die auf den Schlächter warten. Aber jetzt, als sie sich geduckt im Schiff zusammendrängten und diesem gleichmäßigen, selbstsicheren Trommelschlag lauschten, mochte sich ihr erster Hoffnungsschimmer bald in Panik verwandeln. Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätten! Aber nach der Breitseite der Euryalus war die Navarra in einem so traurigen Zustand, daß schnelle Reparatur nicht möglich war. Das Schiff lag zu tief im Wasser, und selbst wenn Wind aufkam, würde sie ohne Besan nur schlecht segeln. Sie hatten die Kampanje-Geschütze über Bord werfen müssen, um das Achterschiff zu entlasten, das am meisten abbekommen hatte. Der Gedanke, daß diese Geschütze gerade jetzt, da sie am nötigsten gebraucht wurden, auf dem Meeresgrund lagen, war nicht eben ermutigend.
In der Heckkajüte waren Meheux und seine Männer fieberhaft an der Arbeit, um ihren Anteil an dem Plan zu erfüllen. Die Navarra besaß zwei starke Heckgeschütze; eins davon war jedoch durch eine Kugel der Euryalus zerschmettert worden. Aber das andere war von seinem ungünstigen Platz an Steuerbord verholt worden und stand jetzt mitten in der Kajüte, die Mündung auf das Fenster gerichtet. Fenster waren allerdings nicht mehr da. Meheux hatte alle Rahmen weggeschlagen, so daß die Kanone weites Schußfeld über die ganze Breite des Hecks hatte. McEwen überprüfte eben die hastig aufge-riggten Taljen, und die Matrosen stapelten eifrig Pulver und Kugeln am Kajütschott.
Meheux wischte sich das dampfende Gesicht und grinste mühsam.»Die müßte es schaffen, Sir. «Er schlug auf den runden Verschluß.»Ein englischer Zweiunddreißigpfünder. Möchte bloß wissen, wo dieses lausige Diebespack den her hat.»
Bolitho nickte und trat an die klaffende Fensteröffnung. Wenn er sich hinausbeugte, konnte er das vorderste Boot sehen; wie Gold schimmerten seine Ruder im Sonnenlicht. Die meisten Geschütze der Navarra waren alt und nutzten nicht viel. Sie waren eher für die Abschreckung irgendwelcher Amateurpiraten gedacht, als für den Kampf auf Leben und Tod. Die Navarra hatte sich, wie die meisten Kauffahrer auf allen Weltmeeren, mehr auf ihre Behendigkeit als auf ihre Kampfkraft verlassen. Aber diese Kanone hier — das war tatsächlich der einzige Fund von einigem Wert, ein ähnlicher Typ wie die Geschütze in der unteren Batterie der Euryalus und in den richtigen Händen eine vernichtende Waffe. Bei den Matrosen hatte sie den Spitznamen» Lange Neun«, weil ihr Rohr neun Fuß lang war. Sie war auf anderthalb Meilen noch ziemlich treffsicher, und dann durchschlug die Kugel noch drei Fuß dicke Eichenplanken. Treffsicherheit war im Moment wichtiger als alles andere.