Es hatte auch Freiwillige gegeben, meistens Männer aus Cornwall, die Bolithos Namen und Ruf kannten, doch waren viele darunter, die ihn nie im Leben persönlich gesehen hatten.
Im Grunde war er mit der Euryalus dienstlich ein gutes Stück vorwärtsgekommen, wie er sich damals oft gesagt hatte. Sie war ein großartiges und noch dazu neues Schiff. Außerdem war dieses Kommando sowohl eine offene Anerkennung seiner bisherigen Leistungen als auch das Sprungbrett zu weiterer Beförderung. Von so etwas träumte jeder ehrgeizige Marineoffizier; und in einer Laufbahn, bei der das Avancement oftmals vom Tode eines Ranghöheren abhing, mußte die Euryalus Bewunderung und Neid bei denen erregen, die weniger Glück hatten.
Doch für Bolitho bedeutete sie noch etwas mehr, etwas sehr Persönliches. Während er die Karibische See durchstreifte und dann zu jener letzten Schlacht in die Biskaya zurücksegelte, hatte ihn die Erinnerung an Cheney, seine Frau, gequält, die unterdessen in Cornwall gestorben war; er war in ihrer Todesstunde, als sie ihn am nötigsten gebraucht hätte, nicht bei ihr gewesen. Er hätte zwar nichts tun können, dessen war er sich bewußt. Die Kutsche war umgestürzt; Cheney war dabei ums Leben gekommen, und ihr ungeborenes Kind auch. Es hätte nichts genutzt, wenn er dabeigewesen wäre. Und doch ließ ihn der Gedanke daran nicht los, und er zog sich von seinen Offizieren und der Mannschaft so sehr zurück, daß er zu allem anderen auch noch unter seiner Einsamkeit litt.
Und jetzt war er wieder zu Hause, in Falmouth. Das große, graue steinerne Haus wartete auf ihn wie immer, wie es auf alle anderen vor ihm gewartet hatte. Doch nun würde es ihm leerer denn je vorkommen.
Aufstampfend nahm der vor der Kajütentür Posten stehende MarineInfanterist Haltung an, die Augen starr auf einen Punkt über Bolithos Schulter gerichtet. Wie ein Spielzeugsoldat sah er aus mit seinem ausdruckslosen Gesicht und dem scharlachroten Uniformrock.
Das Sonnenlicht stach durch die großen Heckfenster und warf zahllose Reflexe über die Täfelung und die dunklen Möbel. Der grauhaarige Sekretär des Admirals war damit beschäftigt, allerlei Papiere durchzusehen und sie in einem langen Metallbehälter zu verstauen. Er machte Miene aufzustehen, aber Bolitho schüttelte nur den Kopf und schritt langsam zur anderen Seite der Kajüte. Er hörte, wie sich der Admiral in seiner Schlafkammer nebenan bewegte, und konnte sich vorstellen, was ihm während dieser letzten Stunden an Bord seines Flaggschiffes durch den Kopf ging.
Am Schott hing ein Spiegel; Bolitho blieb einen Moment stehen, prüfte sein Aussehen und zog sich den Rock zurecht wie vor der Musterung durch einen kritischen Vorgesetzten.
Er konnte sich immer noch nicht an die neue Uniform-Mode gewöhnen, an die schweren Goldepauletten, die seinen Rang als Kapitän höherer Dienstalterstufe bezeichneten. Es kam ihm völlig verkehrt vor, daß in einem Land, welches sich im schwersten Krieg seiner Geschichte befand, neue Rangabzeichen entworfen und hergestellt wurden. Letzten Endes diente dergleichen doch nur dem persönlichen Schmuckbedürfnis; diese Leute hätten sich lieber etwas Neues auf dem Gebiet der Strategie und Taktik einfallen lassen sollen, fand er.
Er strich die rebellische Haarlocke aus der Stirn, die ihm immer wieder über das rechte Auge fiel. Unter ihr erstreckte sich bis in den Haaransatz hinein die grausame Narbe, die ihn nie vergessen ließ, daß er damals dem Tode so nahe gewesen war. Aber sein Haar war noch schwarz; nicht eine graue Strähne deutete an, daß er vierzig Jahre alt war, von denen er achtundzwanzig auf See verbracht hatte. Als er jetzt ein bißchen lächelte, wirkte sein Mund etwas weicher und verlieh seinen gebräunten Zügen den Ausdruck jugendlicher Unbekümmertheit. Er wandte sich von seinem Spiegelbild ab, wie man einen Untergebenen entläßt, mit dem man zufrieden ist.
Die Tür der Schlafkajüte öffnete sich, und der kleine Admiral schritt unsicher auf einen schwankenden Flecken Sonnenlicht zu.
«Wir werden in einer knappen Stunde Anker werfen, Sir«, sagte Bo-litho.»Ich habe entsprechenden Befehl gegeben, so daß Sie an Land gehen können, sobald es Ihnen genehm ist. «Plötzlich fielen ihm die langen Meilen auf schlechten, holperigen Straßen ein, die Schmerzen und Unbequemlichkeiten, die der Admiral auszuhalten hatte, bis er in seinem Heim in Norfolk war.»Mein Haus steht Ihnen selbstverständlich so lange zur Verfügung, wie Sie es wünschen, Sir.»
«Danke. «Der Admiral rückte die Schultern in dem schweren Rock zurecht.»Im Kampf für sein Vaterland zu fallen, ist eine Art zu sterben, aber…«Er seufzte und ließ den Rest ungesagt.
Bolitho sah ihn ernst und nachdenklich an. Er hatte den Admiral schätzengelernt, seine gemessene Anteilnahme, seine Menschlichkeit gegenüber den Angehörigen des kleinen Geschwaders.
«Wir werden Sie vermissen, Sir«, sagte er. Es war ganz ehrlich gemeint, und doch empfand er seine Worte als unangebracht.»Ich vor allem schulde Ihnen sehr viel, wie Sie wissen.»
Der Admiral kam um den Tisch herum. Neben Bolithos hoher schlanker Gestalt wirkte er sehr alt und sehr wehrlos seinem Schicksal gegenüber. Nach einer kleinen Pause erwiderte er:»Sie schulden mir gar nichts. Ohne Ihre Loyalität wäre ich schon ein paar Wochen, nachdem ich meine Flagge hier gehißt hatte, erledigt gewesen. «Er hob die Hand.»Nein, lassen Sie mich ausreden. Viele Flaggkapitäne hätten meine Krankheit ausgenutzt, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen und vor den Höchstkommandierenden ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen. Doch Sie haben immer nur gegen die Feinde des Vaterlandes gekämpft und sich mit ganzer Kraft für Ihre Untergebenen eingesetzt; wenn Sie auch ab und zu Ihre eigenen Interessen wahrnehmen würden, dann hätten Sie bestimmt schon längst den Rang, den Sie verdienen. Es ist keine Schande, daß Sie sich nicht genügend um Ihren persönlichen Aufstieg gekümmert haben, aber es ist ein Verlust für England. Vielleicht wird Ihr neuer Admiral ebenso wie ich zu schätzen wissen, was Sie für ein Mann sind, und wird besser als ich imstande sein, Ihre. «Ein Hustenanfall unterbrach seine Rede; er preßte das blutige Taschentuch vor den Mund, bis der Krampf vorüber war.»Sorgen Sie dafür«, sagte er mühsam,»daß mein Sekretär und mein Steward rechtzeitig an Land gehen. Ich komme gleich an Deck. «Er wandte den Kopf ab.»Aber jetzt möchte ich ein Weilchen allein sein.»
Stumm und nachdenklich ging Bolitho wieder hinauf an Deck. Der Himmel war jetzt klar und hellblau, die See vor der nächsten Landzunge blinkte und glitzerte. Dieses Wetter, dachte er, würde es dem Admiral nur noch schwerer machen, von Bord zu gehen.
Er überschaute das Oberdeck in seiner ganzen Länge, sah die Matrosen an den Brassen, die Toppsgasten, die schon auf die Rahen ausgeschwärmt waren und sich schwarz vom klaren Himmel abhoben. Die Euryalus machte kaum Fahrt, da nur noch Mars- und Klüversegel standen; der breite Rumpf stampfte leicht, als wolle er prüfen, wieviel Wasser er noch unterm Kiel hatte. Wer von der Mannschaft nichts zu tun hatte, spähte zur Küste mit den sauberen Häusern und den grünen Hügeln hinüber. Die Hügel waren mit winzigen Kühen gesprenkelt; unter den Mauern von Pendennis Castle grasten Schafherden.
Stille hing über dem Schiff, nur vom Klatschen des Wassers gegen die Luvseite, vom taktmäßigen Quietschen der Takelage, vom Flüstern der Segel hoch oben unterbrochen. Der weitaus größte Teil der
Besatzung würde nicht an Land gehen dürfen, das wußten die Männer ganz genau. Und doch war es wie ein Nachhausekommen; jeder Seemann empfand das so, selbst wenn er es sich nicht erklären konnte.
Bolitho ließ sich von einem Midshipman ein Teleskop geben und studierte die Küstenlinie. Er verspürte das bekannte Ziehen im Herzen dabei. Ob wohl seine Haushälterin und Ferguson, sein Verwalter, wußten, daß er kam, und ob sie jetzt das langsame Näherkommen des Dreideckers beobachteten?