»Jetzt beruhigen Sie sich mal, Padre«, besänftigte ihn Hewlitt. »Mir wäre es auch ziemlich peinlich, wenn andere erfahren, daß ich in diesem Alter Verstecken gespielt habe. Jedenfalls schlage ich vor, daß Sie sich verstecken sollten und nicht ich, da Sie die besseren Schlupfwinkel kennen…«
Sie gingen gerade einen langen Korridor entlang, der in einer T-förmigen Einmündung endete, wo der Komplex mit den Rampen, Treppen und Aufzügen untergebracht war, durch die man auf die oberen und unteren Ebenen gelangen konnte. In den Wänden befanden sich etliche Türen, die zu verschiedenen Stationen, Lager- und Vorratsräumen sowie zum Wartungstunnelsystem führten. Hewlitt sollte sich drei Minuten lang umdrehen, damit Lioren genug Zeit blieb, sich zu verstecken - entweder ganz in der Nähe oder weiter entfernt den Gang hinauf. Dabei gab es lediglich zwei Spielregeln zu beachten; zum einen, daß sich der Padre in einer leeren Abteilung verstecken sollte anstatt auf einer Station, weil sie sonst nur unnötig ins Gerede gekommen wären und die Gefahr bestanden hätte, den Stationsablauf zu stören, und zum anderen, daß Hewlitt dasVersteck allein durch den Einsatz des Instinkts, der Empathie oder dessen, was er sonst noch von dieser Virenkreatur geerbt haben könnte, ausfindig machen sollte, ohne hinter die Türen gucken zu dürfen.
Als nach zwanzig Minuten, in denen er vor potentiellen Verstecken gestanden und versucht hatte, Liorens Gegenwart im Geiste aufzuspüren, wobei er etliche Fragen und spöttische Bemerkungen von Passanten einfach überhört hatte, und sämtliche Möglichkeiten erschöpft waren, benutzte er enttäuscht den Kommunikator.
»Ich habe absolut nichts wahrgenommen«, sagte er. »Kommen Sie bitte heraus, ich weiß wirklich nicht, wo Sie sind.«
Lioren tauchte hinter einer Tür auf, die Hewlitt erst einige Minuten zuvor in Gedanken abgetastet hatte, und eilte auf ihn zu. »Ich auch nicht, obwohl ich gehört habe, wie Sie vor meinem Versteck einen Moment lang stehengeblieben sind«, meinte der Padre. »Das Geräusch von terrestrischen Schritten ist nämlich praktisch nicht zu verwechseln. Doch kaum habe ich Sie eben gesehen, hatte ich wieder dieses Wiedererkennungsgefühl.«
»Mir ging's genauso«, pflichtete ihm Hewlitt bei. »Aber warum müssen wir uns dabei sehen können?«
Der Padre gab ein glucksendes Geräusch von sich, das nicht übersetzt wurde, und erwiderte: »Das weiß wohl nur Gott allein und vielleicht noch diese Virenkreatur.«
Den ganzen Weg bis zu seiner alten Station zerbrach sich Hewlitt schweigend den Kopf darüber. Abgesehen davon, sich per Kommunikator bei O'Mara zu melden, um ihm die neue Information weiterzugeben, schien der Padre keine Lust auf eine weitere Diskussion über dieses Thema zu haben. Wahrscheinlich drehten sich seine Gedanken in erster Linie um die Probleme des Patienten, den er gerade besuchen wollte.
»Patient Hewlitt, was machen Sie denn hier?« begrüßte ihn Leethveeschi erstaunt, als er kurz darauf das Personalzimmer betrat.
Wie er wußte, gehörten die regelmäßigen Besuche des Padre längst zum Stationsalltag, doch klang die Oberschwester so, als wäre sie über dieGegenwart eines ehemaligen Patienten, der sich als ein Störfaktor erwiesen hatte, nicht sonderlich erfreut. Während Hewlitt noch immer nach einer passenden Antwort suchte, übernahm Lioren diese Aufgabe bereits für ihn. Dabei fiel ihm zwar auf, daß der Padre nicht wirklich log, aber mit der Wahrheit recht sparsam umzugehen wußte.
»Mit Ihrer Erlaubnis, Oberschwester, wird er mich begleiten, damit er die Patienten beobachten und mit ihnen sprechen kann, um mir mit nichtmedizinischem Rat zur Seite zu stehen. Ich versichere Ihnen, daß er mit niemandem reden wird, dessen Behandlungsmethode oder Gesundheitszustand eine Unterhaltung nicht zuläßt. Darüber hinaus garantiere ich Ihnen, daß Ihnen der ehemalige Patient Hewlitt keine Unannehmlichkeiten mehr bereiten wird.«
Ein Teil von Leethveeschis Körper zuckte in der Chlorhülle, was vermutlich eine nonverbale Geste der Zustimmung war. Dann sagte sie: »Ich glaube, ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Das, was Sie mit Patientin Morredeth erlebt haben, Expatient Hewlitt, hat Sie wahrscheinlich dazu veranlaßt oder auch nur darin bestärkt, sich für eine Ausbildung zum geistlichen Berater zu entscheiden. Das ist sehr lobenswert, und Sie haben einen hervorragenden Mentor gefunden.«
»Der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin, ist, daß wir…«, begann Hewlitt.
»Das zu erklären würde sicherlich zu lange dauern«, unterbrach ihn Leethveeschi. »Im Moment habe ich wirklich nicht die Zeit, den theologischen Ausführungen oder Bekenntnissen eines Aliens zuzuhören, so interessant das alles auch sein mag. Sie können sich ja mit dem einen oder anderen Patienten darüber unterhalten, aber bitte sorgen Sie dafür, daß keine weiteren Wunder bei uns geschehen.«
»Das verspreche ich Ihnen«, antwortete Hewlitt lächelnd, während er dem Padre auf die Station folgte.
Nachdem sie sowohl Leethveeschi als auch alle anderen diensthabenden Schwestern und Pfleger im Personalraum von ihrer Liste potentieller Exwirte gestrichen hatten, taten sie dasselbe mit dem Patienten, dem Lioreneinen Besuch abstattete. Bei diesem bedauernswerten Geschöpf handelte es sich um einen Melfaner namens Kennonalt, dessen Stützgestell von beängstigend vielen Biosensoren und medizinischen Geräten umgeben war. Was dem Melfaner fehlte, konnte er nicht genau feststellen, zumal Lioren ihm klar zu verstehen gegeben hatte, daß die Unterhaltung mit Kennonalt rein privat sei und Hewlitt die Zeit lieber damit verbringen solle, die anderen Patienten zu überprüfen, bis er sich wieder zu ihm gesellen würde.
Folglich ging er gemächlich im Zickzack die Station auf und ab. Es war ein Spaziergang durch vertrautes Territorium, wenngleich er sich nicht sicher war, ob diese Vertrautheit auch auf die Patienten zutraf, denn er hatte immer noch große Probleme damit, einen Tralthaner, Kelgianer, Melfaner oder wen auch immer vom anderen zu unterscheiden. Die meisten von ihnen schienen froh über die Gelegenheit zu sein, sich unterhalten zu können. Andere wiederum wirkten eher zurückhaltend, oder sie ignorierten ihn einfach, und einer wurde gerade behandelt und durfte nicht gestört werden. Aber Hewlitt hatte die Gelegenheit, sie alle genau anzusehen; Patienten und Krankenpfleger gleichermaßen, und das sehr eingehend und in weit mehr Zeit, als er gebraucht hätte, um sie als ehemalige Wirte ausschließen zu können. Sein letzter Besuch galt einer Tralthanerin und einem Duthaner, die am Eßtisch für ambulante Patienten Scremman spielten. Noch während er sie ansprach, hatte er sie als ehemalige Wirtskörper bereits ausgesondert.
»Sie sind doch Horrantor und Bowab, nicht wahr?« begrüßte er die beiden. »Geht es Ihnen gut?«
»Ach, demnach müssen Sie Patient Hewlitt sein, richtig?« erkundigte sich die Tralthanerin. »Meine Gliedmaße heilt, danke der Nachfrage, und Bowab geht es sehr gut, sowohl gesundheitlich als auch bei diesem verflixten Spiel hier. Wie schön, Sie mal wiederzusehen. Erzählen Sie uns was von sich. Haben die Ärzte herausgefunden, was Ihnen fehlt?«
»Ja«, antwortete Hewlitt, und er wählte die Worte mit Bedacht, als er fortfuhr: »Ich habe keine Beschwerden mehr und fühle mich gesundheitlich sehr gut. Aber wie man mir gesagt hat, handelte es sich bei mir um einhöchst ungewöhnliches Krankheitsbild. Deshalb wurde ich darum gebeten, noch eine Weile hierzubleiben und dabei zu helfen, ein paar letzte offene Fragen bezüglich meines Falls zu klären. Das bei der mir geleisteten Hilfe abzulehnen wäre mir sehr schwer gefallen.«