»Nein, ich weiß sehr wohl, daß Patient Hewlitt als Kind insgesamt zwei Stürze völlig unverletzt überstanden hat«, entgegnete Murchison. »Wahrscheinlich geschah das rein zufällig, könnte aber auch bedeutsam sein, wenn wir davon ausgehen, daß in der Frucht, die er vor dem ersten Sturz verzehrt hat, eine Substanz war, die die hyperallergische Reaktion nach dem Flugzeugunglück ausgelöst hat. Die Schilderung der Ereignisse, die während und nach dem zweiten Sturz stattgefunden haben, werdendurch objektive medizinische Beweise belegt, aber die Darstellung der Begleitumstände des ersten Sturzes ist rein subjektiv und wird nur durch Kindheitserinnerungen gestützt, die sich als wenig glaubwürdig herausstellen könnten.
Berücksichtigt man die geringe Körpergröße des Patienten zur damaligen Zeit, dann könnte die Absturzhöhe übertrieben worden sein. Bei der Frucht, die der Junge damals verzehrt hat und die später von anderen als hochgiftig identifiziert worden ist, könnte es sich um eine optisch zwar ähnliche, ansonsten aber ungiftige Sorte gehandelt haben. Die anschließende Bewußtlosigkeit hätte also lediglich eine natürliche Ermüdung nach einem langen Spielnachmittag gewesen sein können. Kinder können großartige Geschichten erzählen, und im nachhinein glauben sie sogar selbst daran. Solange wir aber keine objektiven Beweise haben, die uns … Patient Hewlitt, bitte halten Sie Ihre emotionale Ausstrahlung unter Kontrolle!«
Da Priliclas zerbrechlicher Körper durch Hewlitts Wut und tiefe Enttäuschung emotional erfaßt und wie von einem Sturm durchgerüttelt wurde, versuchte er verzweifelt, seine Gefühle zu unterdrücken. Murchison war die einzige von den an Bord befindlichen Ärzten, die derselben Spezies wie Hewlitt angehörte. Er hatte sie als eine freundliche, entspannte und kompetente Persönlichkeit kennengelernt, die einem sehr viel Vertrauen einflößen konnte, wenn sie sich nicht wie jetzt als betont sachlich unterkühlte Pathologin gab. Eigentlich hatte er sie gemocht und ihr vertraut, und er war davon ausgegangen, daß sie ihm immer mehr Glauben schenkte. Doch jetzt mußte er zu seiner tiefen Enttäuschung feststellen, daß sie wie all die anderen war.
»Ich habe Sie übrigens nicht als Lügner bezeichnet, Hewlitt«, beruhigte ihn Murchison, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. »Ich will damit lediglich klarstellen, daß ich gegenwärtig mehr Beweise brauche, um den Wahrheitsgehalt Ihrer Darstellungen zu untermauern.«
Hewlitt wollte gerade etwas darauf antworten, als ihm die Stimme des Kommunikationsoffiziers das Wort abschnitt.
»Wir haben soeben die Mitteilung erhalten, daß das Bodenfahrzeug mitMajor Stillman an Bord den Stützpunkt verlassen hat«, verkündete Lieutenant Haslam. »Er läßt Ihnen ausrichten, daß er in ungefähr achtzehn Minuten eintreffen wird.«
18. Kapitel
Mit einer Mischung aus Verwunderung und beruflichem Interesse beobachtete Hewlitt, wie sich der füllige, grauhaarige Mann, der ihr Führer sein sollte, aus dem kleinen Bodenfahrzeug zwängte und auf sie zukam. Stillman trug keine Uniform, sondern die einheimische Tracht, bestehend aus einem kurzen Mantel, einem Kilt und knielangen Stiefeln aus weichem Leder. Die Kleidung wirkte bequem und hatte sogar einen gewissen Stil, obwohl in diesem Fall die fließenden Linien des Mantels durch die Unsitte des Trägers verdorben wurden, zu viele Utensilien in den Innentaschen mit sich herumzuschleppen. Dennoch konnte Hewlitt auf den ersten Blick sagen, daß es sich im Gegensatz zu den Overalls, die Murchison, Fletcher und er selbst trugen, um keine synthetische Ware handelte. Während er bereits die Möglichkeit erwog, den etlanischen Kilt einigen seiner weniger konservativen Kunden anzubieten, schwebte Prilicla ein Stück voran, um Stillman auf halbem Weg zu begrüßen.
»Guten Tag, Freund Stillman«, sagte der Empath. »Erst einmal muß ich mich dafür entschuldigen, Sie hier unten auf dem Landeplatz zu begrüßen, anstatt Sie an Bord einzuladen, wo Sie Ihre große Neugier bezüglich der Ausstattung unseres Raumschiffs befriedigen könnten. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, daß es Colonel Shech-Rar lieber wäre, wenn wir Ihre kostbar bemessene Zeit nicht allzusehr in Anspruch nehmen.«
Es dauerte eine ganze Weile, ehe sich Stillman von seinem ersten Zusammentreffen mit einem cinrusskischen Empathen erholt und die Stimme wiedergefunden hatte – mit Ausnahme eines kurzen, anerkennenden Blicks auf die positiv auffallende Erscheinung der Pathologin Murchison hatte er die anderen Besatzungsmitglieder kaum wahrgenommen.
»Ich… ich bin längst pensioniert, Doktor Prilicla«, begrüßte er den Empathen mit einem verkniffenen Lächeln. »Und über meine Zeit bestimme allein ich und nicht der Colonel. Nehmen Sie sich also so viel davon, wie Sie wollen. Ansonsten haben Sie übrigens völlig recht: Was die Rhabwar angeht, so habe ich schon eine ganze Menge darüber gehört und würde mirdas Schiff gerne mal genauer ansehen. Wenn es Ihnen allen recht ist, sollten wir allerdings so vorgehen, wie es sich der Colonel wünscht. Später habe ich noch genug Zeit, meine Neugier zu befriedigen.«
»Ganz wie Sie möchten«, willigte Prilicla ein. »Wie lauten denn die Anweisungen des Colonels?«
»Als erstes sollen wir das Haus aufsuchen«, antwortete Stillman. »Die jetzigen Bewohner sind beim Stützpunkt beschäftigt, haben aber für den Rest des Tages freibekommen und müßten zum Zeitpunkt unseres Eintreffens bereits zu Hause sein. Falls Sie den Zahnarzt persönlich treffen wollen, könnte es ein Problem geben. Doktor Hamilton besucht nämlich gerade unseren anderen Stützpunkt auf dem Kontinent Yunnet und wird frühestens in drei Tagen zurückerwartet. Wenn Sie mit ihm reden wollen, hat er die Anweisung erhalten, mit Ihnen so schnell wie möglich im Haus oder auf dem Schiff Kontakt aufzunehmen. Danach können Sie soviel Zeit, wie Sie brauchen, in der Schlucht verbringen.«
Also sichert man uns die volle Zusammenarbeit zu, und das mit einer solchen Begeisterung, daß kaum Zeit zum Nachdenken bleibt, dachte Hewlitt spöttisch.
Die Außenfassade des Hauses hatte sich kaum verändert; lediglich der Vordereingang war vergrößert und die Treppe durch eine Rampe ersetzt worden, um den tralthanischen Bewohnern den Zutritt zu erleichtern.
Die neuen Inhaber erwarteten sie bereits zur Begrüßung an der Haustür. Stillman, der das Paar offenbar gut kannte, stellte ihnen die beiden Tralthaner als Crajarron und Surriltor vor. Danach war die Abordnung der Rhabwar an der Reihe, wobei natürlich auf die einzigartige terrestrische Sitte des Händeschüttelns verzichtet wurde.
Die Inneneinrichtung seines ehemaligen Elternhauses war überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen. Soweit er sich erinnern konnte, waren die meisten Raumteiler verschwunden und bis auf wenige Ausnahmen auch fast alle Stühle und Liegen, die für etwaige Besuche anderer Spezies benötigt wurden. Da sich die Tralthaner nicht hinsetzen konnten, bevorzugten sie leere Räume, in denen sie ungehindert umherlaufen konnten. Während sichHewlitt das Schlafgestell von Patientin Horrantor auf Station sieben ins Gedächtnis rief, erkannte er in einer Ecke des Raums die ausgepolsterte Schlafstelle. Im Gegensatz zum fast völlig leeren Raum waren die Wände vor lauter Bücher- und Videobänderregalen kaum zu sehen, und an den wenigen freien Stellen hingen Bilder- und Wandteppiche, deren Motive ihm unklar blieben, oder standen schmale, kegelförmige Töpfe mit Duftpflanzen.