»Als nächstes werden wir der AUGL-Station einen Besuch abstatten«, stellte Lioren klar. »Aber wir sind eben unterbrochen worden, also erzählen Sie mir bitte erst einmal, was genau Sie kaum glauben können.«
»Na ja, ich will Sie nicht kränken, aber ich fürchte, daß Sie schon aufgrund Ihres Berufs dazu neigen, dem Chefpsychologen gegenüber etwas zu freundlich gesinnt zu sein. Mich wird niemand davon überzeugen können, daß er kein mißmutiger, unverschämter und gefühlloser alte Griesgram ist, der allenfalls dann einfühlsam und fürsorglich ist, wenn es um ihn selbst geht. Sobald er den Mund aufmacht, bestärkt er mich nur in meiner Überzeugung.«
Der Padre gab zunächst ein unübersetzbares Geräusch von sich, dann entgegnete er: »Natürlich hat Major O'Mara den einen oder anderen Charakterfehler, und es gibt sogar eine Menge Krankenhausmitarbeiter, die Ihnen sagen werden, daß ihre psychische Stabilität allein darauf zurückzuführen sei, daß sie schlichtweg zuviel Angst vor O'Mara hätten, um durchzudrehen, was natürlich nichts anderes als eine witzig gemeinte Übertreibung ist. Darüber hinaus entspricht es auch in keiner Weise der Wahrheit.«
»Naja, wenn Sie das sagen, Padre«, seufzte Hewlitt.
Während sie weiter den Hauptkorridor entlanggingen, gelang es Hewlitt zum ersten Mal, auch ohne Liorens führender Hand auf der SchulterZusammenstöße mit anderen Wesen zu vermeiden und gleichzeitig eine Unterhaltung zu führen, was ihn ebenso erfreute wie erstaunte.
»Glauben Sie mir, wenn irgendein Wesen, egal welcher Spezies es angehört, dringend psychiatrischer Hilfe bedarf, dann gibt es im ganzen Krankenhaus keine geeignetere Person, und da beziehe ich mich durchaus mit ein, als Major O'Mara, der sie gewährleisten könnte. Der Major übernimmt fast nur die aussichtslos erscheinenden Fälle, also diejenigen, bei denen dauerhafte seelische Erkrankungen zu befürchten sind, die letztendlich dazu führen könnten, daß hochmotivierte und aufopferungsvoll arbeitende Personalangehörige aus dem Dienst entlassen werden müßten. Doch meistens sichert er nicht nur die geistige Gesundheit dieser Mitarbeiter, sondern auch deren beruflichen Werdegang. Diese Akten werden allesamt unter Verschluß gehalten, und weder der Major noch seine Patienten sprechen über die Behandlungsmethode und deren zumeist positiven Folgen… «
Hewlitt wußte zwar nicht warum, aber er war sich ziemlich sicher, daß einer dieser Patienten Lioren gewesen war.
»… O'Mara würde Ihnen übrigens erzählen, daß er sämtliche Klinikmitarbeiter als Patienten betrachtet«, fuhr der Padre fort. »Die meisten von ihnen brauchen nur ein Minimum an Aufmerksamkeit oder überhaupt keine Behandlung, und bei denen kann er sich, wie er sagt, entspannen und sich ganz normal verhalten, nämlich als griesgrämiges und sarkastisch veranlagtes Wesen. Aber wenn er sich besorgt gegenüber einer Person zeigt, so wie er es getan hat, als sich bei Ihnen erste Anzeichen einer psychischen Stressituation einstellten, weil Sie mich als ehemaligen Wirtskörper erkannt hatten, dann kümmert er sich sofort darum. Da Sie sich relativ rasch erholt haben, kehrte O'Mara sofort zu seinem normalen Verhaltensmuster zurück, das er jenen Personen gegenüber an den Tag legt, die er zu den geistig gesunden und seelisch stabilen Patienten zählt.
Anstatt wütend auf ihn zu sein, sollten Sie lieber erleichtert und ihm dankbar sein. Und sicherlich sind Sie auch ein wenig erstaunt … «
Hewlitt lachte. »Vielen Dank auch für diese wirklich erstaunlichenInformationen«, sagte er. »Aber mal im Ernst, ich habe noch eine Frage, und zwar die, die ich Ihnen vorher schon einmal gestellt habe: Was genau verheimlichen Sie mir?«
»Meine vorherige Antwort sollte eigentlich dazu dienen, das Thema zu wechseln, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, mal über etwas anderes nachzudenken«, erwiderte Lioren. »Wir kommen übrigens gleich auf die AUGL-Station. Können Sie schwimmen?«
28. Kapitel
In der äußeren Umkleidekabine kontrollierte Lioren die Verschlüsse des Helms und die Luftzufuhr des Schutzanzugs. Bevor er jedoch in die Station schwimmen durfte, wurde diese Prozedur von Oberschwester Hredlichli in dem wassergefüllten Personalraum wiederholt. Allmählich fragte er sich, ob Illensanerinnen so etwas wie ein medizinisches Monopol auf den Oberschwesterposten hatten, denn auf den zwei Stationen, die er bisher kennengelernt hatte, bekleideten jeweils Chloratmerinnen diese Position. Da er von der Schwester durch den Stoff zweier Schutzanzüge getrennt war und immerhin einige Meter Wasser dazwischenlagen, hatte er das Gefühl, daß ihm der typische Chlorgeruch allmählich zu schaffen machte.
»Ich besuche jetzt den Patienten AUGL-Zwei-Dreiunddreißig, das ist die physiologische Klassifikation für diese wasseratmende Spezies. Die AUGLs auf dieser Station sind nach den Nummern ihrer jeweiligen Krankenakte benannt, weil ihre Eigennamen nur den engen Familienangehörigen bekannt sind. Sie sehen ziemlich furchterregend aus, legen ein etwas extrovertiertes Verhalten an den Tag und – es sei denn, man verbietet es ihnen – gehen mit kleineren Wesen etwas verspielt um, verletzen eine andere Kreatur aber niemals absichtlich.«
Als der Padre in Richtung des Stationseingangs schwamm, wirkten die Bewegungen seines sonst so klobig anmutenden Pyramidenkörpers mit den zwölf Gliedmaßen im Wasser geradezu anmutig. »Die meisten Leute empfinden bei der ersten Begegnung mit einem Chalder eine gewisse Beklommenheit, und man wird es Ihnen keineswegs als mangelnde emotionale Stärke ankreiden, wenn Sie sich nicht all zu nahe an diese Wesen herantrauen«, fuhr Lioren fort. »Das hier soll übrigens auch keine Mutprobe oder dergleichen sein. Also nehmen Sie sich Zeit, und unterhalten Sie sich nur dann mit ihnen, wenn Sie das Gefühl haben, innerlich bereit dazu zu sein.«
Hewlitt starrte fast eine Ewigkeit durch die durchsichtige Wand des Personalraums in eine trübe, grüne Unterwasserwelt, in der Unmengenanscheinend zur Dekoration dienende Vegetation trieb, wobei es sich bei den größeren Pflanzen durchaus um die Patienten selbst hätte handeln können. Da sich Hredlichli und eine kelgianische Schwester auf ihre Bildschirme konzentrierten und ihn nicht weiter beachteten, schwamm er ohne weiteres Zögern langsam in die Station hinein.
Den Personalraum hatte er noch keine zehn Meter hinter sich gelassen, da trennte sich vom äußersten Rande des Sichtfelds einer der verschwommenen, dunkelgrünen Schatten aus dem Winkel zwischen Boden und Wand ab und schoß wie ein großer organischer Torpedo auf ihn zu, und je näher dieses undefinierbare Etwas auf ihn zukam, desto mehr nahm es eine grauenerregende, dreidimensionale Gestalt an. Als dieses Ungetüm ruckartig zum Stehen kam, wurde Hewlitt aufgrund der Druckwellen und Turbulenzen, die durch das überstürzte Herannahen und das schnelle Schlagen der Flossen entstanden waren, im Kreis herumgewirbelt.
Plötzlich schwang eine der wuchtigen Flossen nach oben und blieb wie eine weiche Gummimatratze einen Augenblick an seinem Rücken haften, um ihm Halt zu geben. Dann nahm das Wesen etwas Abstand und begann ihn wie ein übergroßer und nicht enden wollender Doughnut zu umkreisen, der vom Kopf bis zum Schwanz mindestens zwanzig Meter lang sein mußte. Er hätte ohne weiteres nach oben oder unten schwimmen können, doch aus irgendeinem Grund waren Arme und Beine und selbst seine Stimme wie gelähmt.