O'Mara und seine Abteilung hatten die Aufgabe, derartige Probleme rechtzeitig zu entdecken und im Keim zu ersticken oder, wenn alle Stricke rissen, den betreffenden Störenfried aus dem Hospital zu entfernen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sich der Major und seine Mitarbeiter durch dieses ständige Ausschauhalten nach Anzeichen von falscher, schädlicher oder intoleranter Denkweise, dem sie sich mit großer Hingabe widmeten,zu den unbeliebtesten Lebewesen im Hospital entwickelt hatten, insbesondere O'Mara selbst. Doch der Chefpsychologe schien sich in seiner Rolle doppelt wohl zu fühlen, denn er hatte es nie darauf angelegt, von anderen bewundert zu werden, und allem Anschein nach genoß er seine Arbeit.
»O'Mara trägt auch die besondere und persönliche Verantwortung für die geistige Gesundheit der Diagnostiker«, fuhr Lioren fort. »Diese sind oft gleichzeitig im Besitz von mehreren Schulungsbändern. Bei dem Melfaner, der sich uns gerade nähert, handelt es sich übrigens um den Diagnostiker Ergandhir. Als ich mich das letzte Mal mit ihm unterhalten habe, hatte er gleichzeitig drei dieser Bänder im Kopf gespeichert. Nehmen Sie bei ihm irgendwelche Wiedererkennungsmerkmale wahr?«
Hewlitt wartete, bis der Melfaner auf seinen vier Ektoskelettbeinen an ihnen vorbeigeklappert und zu den anderen hineingegangen war, bevor er antwortete: »Nein. Und dieses komische Wesen hat unsere Gegenwart ebenfalls völlig ignoriert, obwohl ich dem, was Sie mir eben erzählt haben, entnehmen konnte, daß Sie sich beide einigermaßen kennen.«
»Wir kennen uns sogar sehr gut«, bestätigte Lioren. »Aus seinem Verhalten läßt sich nur schließen, daß Ergandhirs Verstand zur Zeit von einem anderen Wesen dominiert wird, das mich nicht kennt, und daran wird sich auch nichts ändern, da der Uhrheber dieses Schulungsbandes nicht mehr lebt.«
»Ich stelle Ihnen ungern noch eine Frage, aber würden Sie mir das bitte genauer erklären?« hakte Hewlitt nach.
»Im Grunde gehört es zu derselben Frage wie zuvor, und ich werde versuchen, sie zu beantworten«, sagte der Padre.
Wie Lioren ausführte, waren diese Physiologiebänder für ihren Benutzer sicherlich ein zweifelhaftes Vergnügen, aber ihre Anwendung war unverzichtbar, da sich niemand einbilden konnte, das gesamte physiologische und pathologische Wissen im Kopf zu behalten, das für die Behandlung derart vieler Patienten verschiedener Spezies benötigt wurde. Die fast unvorstellbare Datenmenge, die für eine angemessene Behandlungerforderlich war, wurde mittels dieser Schulungsbänder weitergegeben, bei denen es sich um nichts anderes als um die Aufzeichnung der Gehirnströme von medizinischen Kapazitäten der jeweils betreffenden Spezies handelte. Wenn beispielsweise ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten medizinisch zu versorgen hatte, speicherte er bis zum Abschluß der Behandlung eins der DBLF-Schulungsbänder im Gehirn und ließ es anschließend wieder löschen. Chefärzte, zu deren Aufgabe auch die Weiterbildung des medizinischen Personals gehörte, mußten häufig zwei, drei dieser Bänder über einen längeren Zeitraum im Kopf behalten, was alles andere als ein Vergnügen für sie war. Sie konnten sich allenfalls damit trösten, daß es Diagnostikern noch schlechter erging als ihnen.
Diagnostiker bildeten die geistige Elite des Orbit Hospitals. Ein Diagnostiker war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurden, bis zu zehn Bänder permanent und gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.
Im Hospital gab es das geflügelte Wort – das angeblich vom Chefpsychologen selbst stammte -, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein mußte.
»Dabei muß man wissen, daß einem mit einem Schulungsband nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingetrichtert werden, sondern auch die Persönlichkeit und das Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte«, fuhr Lioren fort. »Praktisch setzen sich Diagnostiker freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus, und da sich sämtliche Aliens, die in Ihren Hirnen herumgeistern, charakterlich völlig voneinander unterscheiden und häufig nicht einmal dasselbe logische System anwenden… Nun ja, Genies, egal auf welchem Gebiet, sind nur selten leicht umgängliche Wesen. Zwar üben diese Bandurheber auf die Denkprozesse und Körperfunktionen desBandinhabers keine Kontrolle aus, aber ein Diagnostiker, der nicht über eine völlig stabile oder ausgeglichene Persönlichkeit verfügt, kann sich hin und wieder ziemlich lächerlich machen, wenn er das Gegenteil für wahr hält und nicht mehr Herr der eigenen Sinne ist. Wenn man daran gewöhnt ist, auf zwei Füßen zu gehen, der Verstand aber darauf besteht, daß man sechs Beine hat, dann ist das schon schlimm, aber die verschiedenartigen Essensvorlieben und vor allem die Träume, die einem im Schlaf überraschen, wenn der Verstand keine Kontrolle über das Unterbewußtsein hat, sind noch sehr viel schlimmer. Am allerschlimmsten jedoch sind die sexuellen Phantasien fremder Speziesangehöriger… die können einem wirklich arg zu schaffen machen.
Kein Wunder also, daß O'Mara mit einigen Diagnostikern alle Hände voll zu tun hat«, beendete der Padre seine Ausführungen.
Hewlitt überlegte einen Moment, dann sagte er: »Jetzt verstehe ich auch den Grund für die Bemerkung von Pathologin Murchison, daß ihr Mann gleich mehrfach geistesabwesend sei, und auch Priliclas Unsicherheit, die emotionale Ausstrahlung der Virenkreatur entdecken zu können, wenn sein Wirt ein Diagnostiker ist. Dennoch kann ich kaum glauben, daß … «
Er hielt inne, als ein weiterer Diagnostiker watschelnd und quatschend ins Blickfeld rückte. Das Wesen trug einen durchsichtigen Schutzanzug, und das Visier seines Helm war geöffnet. Wie Lioren erklärte, handelte es sich um einen creppelianischen Oktopoden, der einer warmblütigen amphibischen Lebensform angehörte, die sowohl Wasser als auch Luft atmen konnte. Aufgrund seines angegriffenen Hautzustands, der im höheren Alter bei dieser Spezies durchaus üblich war, empfand es dieses Wesen offenbar als angenehmer, Luft zu atmen und seinen Körper in Wasser getaucht zu halten. Hewlitt verstand seinen Namen nicht, denn selbst durch den Translator hindurch hörte sich dieser eher wie ein kurzes Niesen an. Nachdem er sich auch bei diesem Diagnostiker mit Lioren einig darüber war, daß dieses Wesen niemals ein Wirt der Virenkreatur gewesen war, sprach Lioren in den Kommunikator.
»Der letzte ist gerade hineingegangen, Major«, meldete er demChefpsychologen. »Mit Ausnahme von Semlic, der in seinem Umweltprotektor nicht zu sehen war, können wir davon ausgehen, daß alle Diagnostiker sowie Colonel Skempton nicht betroffen sind.«
»In Ordnung, Padre«, antwortete O'Mara knapp. »Dann nehmen Sie beide sofort die Suche wieder auf.«
Offenbar fand in dem Raum eine hitzige Debatte statt, denn sie wurden von einer Vielzahl aufgeregt klingender ET-Stimmen begleitet, als sie sich auf den Weg machten, aber die Geräusche waren zu gedämpft, als daß Hewlitts Translator sie so hätte übersetzen können, daß sie einen Sinn ergeben hätten.