Rudy sagte, er wollte kein Geschenk; er wollte das Geld, das Larry ihm schuldeteund war nicht daran interessiert, sich die übliche Larry-Underwood-Scheiße anzuhören. Mein Gott, hatte Larry gesagt und versucht, heiter zu lachen, ich hätte nicht geglaubt, daß ich eine Quittung von dir brauche, Rudy. Ich hab' mich wohl geirrt. Es war zu einem handfesten Krach eskaliert und hätte fast mit einer Schlägerei geendet. Zuletzt war Rudy ganz rot im Gesicht geworden. Larry hatte geschrien. Typisch. Ganz typisch. Du bist nun mal so. Ich dachte, ich würde meine Lektion nie lernen, aber ich glaube, jetzt hab' ich's. Verpiß dich, Larry.
Rudy ging, und Larry folgte ihm die Treppen der billigen Pension hinunter und zog den Geldbeutel aus der Tasche. Im Geheimfach hinter den Fotos steckten drei säuberlich zusammengefaltete Zehner, und er warf sie Rudy hinterher. Komm, du dreckiger kleiner Lügner! Nimm es! Nimm das gottverdammte Geld!
Rudy hatte die Tür laut polternd aufgerissen und war in die Nacht hinausgegangen, dem Schicksal entgegen, das die Rudys dieser Welt erwarten können. Er sah nicht zurück. Larry hatte schweratmend oben auf der Treppe gestanden, und nach ungefähr einer Minute hatte er nach seinen drei Zehnern gesucht, sie wieder aufgehoben und weggesteckt.
Er hatte im Lauf der Jahre hin und wieder über den Vorfall nachgedacht
Er hatte die Tür aufgemacht, und ein grinsender Toter, dem die Maden kreuz und quer übers Gesicht krochen, hatte dort gesessen, die Hände auf den nackten Schenkeln, und Larry mit eingefallenen Augen angestarrt. Ein widerlicher süßer Geruch schlug Larry entgegen.
Und war mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, daß Rudy im Recht gewesen war. Inzwischen war er sogar sicher. Selbst wenn er Rudy das Geld zurückgezahlt hatte, sie waren seit Beginn der Grundschule Freunde, und (rückblickend) kam es Larry so vor, als habe ihm für die Samstagnachmittagsvorstellung regelmäßig ein Zehncentstück gefehlt, weil er sich auf dem Weg zu Rudy Lakritzkringel oder ein paar Schokoladenriegel gekauft hatte, oder er hatte sich von Rudy ein Fünfcentstück für sein Schulfrühstück geliehen, oder sieben Cent für Fahrgeld. Über die Jahre mußte er sich von Rudy fünfzig Dollar in Kleingeld gepumpt haben, vielleicht sogar hundert. Larry wußte noch, wie er innerlich zusammengezuckt war, als Rudy ihn um das Geld gebeten hatte. Sein Gehirn hatte die fünfundzwanzig Dollar von den drei Zehndollarscheinen abgezogen und ihm gesagt: Dann sind nur noch fünf Dollar übrig. Deshalb mußt du sie ihm schon zurückgezahlt haben. Ich weiß zwar nicht genau, wann, aber zurückgezahlt habe ich sie. Also keine weitere Diskussion in dieser Angelegenheit. Und es hatte auch keine weitere Diskussion mehr gegeben.
Aber danach war er allein in der Stadt gewesen. Er hatte keine Freunde und hatte nicht einmal versucht, im Cafe in der Encino, wo er arbeitete, welche zu finden. Tatsache war, er glaubte, daß alle, die dort arbeiteten, vom cholerischen Chefkoch bis zur arschwippenden, kaugummikauenden Kellnerin, Dummköpfe waren. Ja, er war wirklich überzeugt gewesen, alle in Tonys 'Teed Bag wären Dummköpfe, außer ihm, dem heiligen, bald erfolgreichen (könnt ihr getrost glauben) Larry Underwood. Da er allein in einer Welt voller Dummköpfe war, hatte er Schmerzen wie ein geprügelter Hund und Heimweh wie ein auf einer einsamen Insel gestrandeter Mann. Er dachte immer öfter daran, sich einen Ameri-Pass der GreyhoundBuslinie zu kaufen und sich nach New York zurückzuschleppen. Noch einen Monat, vielleicht nur noch zwei Wochen, und er hätte es getan ... wäre da nicht Yvonne gewesen.
Er lernte Yvonne Wetterlen im Kino zwei Blocks von der Bar entfernt kennen, wo sie als Strip-Tänzerin arbeitete. Als der zweite Film zu Ende war, hatte sie geweint und im Gang um ihren Sitz herum nach der Brieftasche gesucht. Sie hatte den Führerschein darin, ihr Scheckbuch, den Gewerkschaftsausweis, ihre einzige Kreditkarte, eine Fotokopie ihrer Geburtsurkunde und ihre Sozialversicherungskarte. Larry war zwar überzeugt, daß die Brieftasche gestohlen worden war, sagte es aber nicht, sondern half ihr suchen. Und es schien, als würden wirklich manchmal noch Zeichen und Wunder geschehen, denn er hatte sie drei Reihen weiter gefunden, als das Mädchen gerade aufgeben wollte. Er vermutete, daß die Brieftasche dorthin gewandert war, weil die Zuschauer während der Vorführung des wirklich ziemlich langweiligen Films mit den Füßen gescharrt hatten. Yvonne hatte ihn umarmt und ihm weinend gedankt. Larry, der sich wie Captain America gefühlt hatte, sagte ihr, er würde sie wirklich gerne auf einen Burger einladen, war aber momentan knapp bei Kasse. Yvonne sagte, sie würde einen ausgeben. Larry, der Märchenprinz, war ziemlich sicher gewesen, daß sie das würde.
Sie trafen sich regelmäßig; nach nicht einmal zwei Wochen gingen sie fest miteinander. Larry fand einen besseren Job als Angestellter in einer Buchhandlung und trat nebenher mit einer Gruppe namens The Hotshot Rhythm Rangers & All-Time Boogie Band auf. Der Name war eigentlich das beste an der Gruppe, aber Rhythmusgitarrist war Johnny McCall, der später The Tattered Remnants gründete, und das war eine ziemlich gute Band gewesen.
Larry und Yvonne zogen zusammen, und für Larry änderte sich alles. Teilweise lag es daran, daß er endlich eine Wohnung hatte, eine eigene Wohnung, für die er die halbe Miete bezahlte. Yvonne hängte Vorhänge auf; die beiden kauften ein paar billige gebrauchte Möbelstücke und richteten sie gemeinsam her, andere Mitglieder der Band und Yvonnes Freunde kamen zu Besuch. Die Wohnung war tagsüber hell, und nachts wehte eine duftende kalifornische Brise zum Fenster herein, die nach Orangen zu riechen schien, selbst wenn sie nur Smog mit sich brachte. Manchmal kam niemand, und dann saßen er und Yvonne zu Hause und sahen fern, und manchmal brachte sie ihm eine Dose Bier, setzte sich auf die Lehne seines Sessels und kraulte ihm den Hals. Es war seine eigene Wohnung, ein Zuhause, verdammt noch mal, und manchmal lag er nachts wach im Bett, während Yvonne neben ihm schlief, und staunte, wie gut es ihm ging. Danach schlief er ungestört ein, es war der Schlaf der Gerechten, und er dachte gar nicht mehr an Rudy Marks. Jedenfalls nicht oft.
Sie lebten vierzehn Monate zusammen, und es war eine schöne Zeit, abgesehen von den letzten sechs Wochen, als Yvonne echt unerträglich wurde, und die Baseball-Meisterschaft hatte Larry dann den Rest gegeben. Er arbeitete tagsüber in der Buchhandlung, und abends ging er zu Johnny McCall, wo die beiden - die ganze Gruppe probte nur am Wochenende, weil die beiden anderen Nachtschicht arbeiteten - an neuen Stücken herummachten oder einfach nur die großen Oldies durchzogen, die Johnny immer »Aufheizer« nannte, Songs wie »Nobody but Me« und »Double Shot of My Baby's Love«.
Dann ging er nach Hause, sein Zuhause, wo Yvonne das Essen fertig hatte. Keine Fertiggerichte und so eine Scheiße. Richtiges, selbstgekochtes Essen. Das Mädchen war gut erzogen. Hinterher gingen sie ins Wohnzimmer, schalteten die Glotze ein und schauten sich die Baseball-Spiele an. Und später, Liebe. Alles schien gut zu sein, alles schien ihm zu gehören. Überhaupt nichts hatte ihn bedrückt. Seither war nichts mehr so gut gewesen. Nichts.
Er merkte, daß er ein bißchen weinte, und verspürte momentane Verdrossenheit darüber, daß er auf einer Bank im Central Park sass und in der Sonne weinte wie ein seniler alter Rentner. Aber dann überlegte er sich, daß er ein Recht hatte, über etwas zu weinen, das er verloren hatte, daß er ein Recht hatte, traufig zu sein, wenn es Grund zur Trauer gab.
Seine Mutter war vor drei Tagen gestorben. Als sie starb, lag sie auf einem Rollbett auf dem Flur des Mercy Hospital, eingepfercht mit Tausenden weiterer Patienten, die auch nichts anderes zu tun hatten, als zu sterben. Als es zu Ende ging, kniete Larry neben ihr und glaubte, er würde durchdrehen, weil er seine Mutter sterben sah, und ringsum waren der Gestank von Urin und Kot, das höllische Brabbeln der Kranken, der Erstickenden, der Wahnsinnigen; die Schreie der Trauernden. Zuletzt hatte sie ihn gar nicht mehr erkannt; es gab keinen letzten Augenblick des Wiedererkennens. Ihre Brust hatte sich ein letztes Mal gehoben und langsam gesenkt, wie das Gewicht eines Automobils sich auf einen Platten senkt. Er kauerte zehn Minuten oder länger neben ihr, wußte nicht, was er machen sollte und dachte auf verwirrte Weise, daß er warten sollte, bis der Totenschein ausgestellt war oder jemand ihn fragte, was passiert war. Aber es war eindeutig, was passiert war; es passierte ja überall. Und ebenso eindeutig war die Klinik ein Irrenhaus. Kein ernster junger Arzt würde vorbeikommen, sein Beileid aussprechen und dann die Maschinerie bei Sterbefällen in Gang setzen. Früher oder später würde seine Mutter einfach wie ein Sack Sägemehl weggeschleppt werden, und das wollte er nicht mit ansehen. Ihre Handtasche war unter dem Bett. Er fand einen Kugfelschreiber, eine Büroklammer und ihr Scheckbuch darin. Er riß einen Scheckbeleg aus dem Buch, schrieb Namen, Adresse und, nach kurzem Zögern, ihr Alter auf die Rückseite. Er heftete den Zettel mit der Büroklammer an ihre Bluse und fing an zu weinen. Er küßte sie auf die Wange und entfernte sich weinend. Er kam sich wie ein Deserteur vor. Auf der Straße war es ein wenig besser gewesen, obwohl die Straßen da noch voll von Verrückten, Kranken und marschierenden ArmeeEinheiten gewesen waren. Jetzt konnte er hier auf der Bank sitzen und um allgemeinere Dinge trauern: daß seine Mutter nie in den Genuß ihrer Rente gekommen war, daß seine Karriere aus und vorbei war, um die Zeit in L. A., als er mit Yvonne die Baseballspiele angesehen und gewußt hatte, später würden sie ins Bett gehen und miteinander schlafen, und um Rudy. Am meisten trauerte er um Rudy und wünschte sich, er hätte Rudy die fünfundzwanzig Dollar grinsend und achselzuckend gegeben und sich damit die sechs verlorenen Jahre erspart.