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»Wie lange brauchst du, um wieder richtig auf die Beine zu kommen, Stu?«

»Ich weiß es nicht, Tom. Wir müssen einfach abwarten.«

Stu war entschlossen, nichts zu überstürzen, nicht zu drängen - er war dem Tode so nahe gewesen, daß er seine Genesung auskosten wollte. Und er wollte sie so weit fortschreiten lassen wie nur möglich. Sie zogen aus der Empfangshalle in zwei nebeneinanderliegende Zimmer mit einer Verbindungstür im Erdgeschoß. Das Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors wurde Kojaks provisorische Hundehütte. Der Knochen in Stus gebrochenem Bein schien tatsächlich wieder zusammenzuheilen, nur leider ziemlich schief. Wenn er wieder auf zwei geraden Beinen gehen wollte, würde George Richardson den Knochen wieder brechen und richten müssen. Bis dahin würde er nur humpeln können, wenn er die Krücken nicht mehr benutzte.

Trotzdem fing er an, das Bein zu trainieren. Er wußte, daß es lange dauern würde, auch nur fünfundsiebzig Prozent der alten Ausdauer und Beweglichkeit wiederzuerlangen, aber er hatte ja auch viel Zeit: wahrscheinlich einen ganzen Winter.

Am 28. Oktober fiel in Green River ungefähr zehn Zentimeter Schnee.

»Wenn wir hier nicht bald verschwinden«, sagte Stu, als er mit Tom am Fenster stand und sich die Bescherung ansah, »werden wir den ganzen verdammten Winter im Utah-Hotel verbringen.«

Am nächsten Tag fuhren sie in ihrem alten Plymouth zur Tankstelle am Rande der Stadt. Sie tauschten die abgefahrenen Hinterreifen gegen ein Paar Winterreifen mit Spikes. Stu mußte einige Ruhepausen einlegen, und Tom machte die Muskelarbeit. Vorher hatte Stu überlegt, ob sie nicht lieber ein Fahrzeug mit Vierradantrieb nehmen sollten, aber dann hatte er sich - ganz irrational - entschlossen, dem alten Auto, das ihnen Glück gebracht hatte, treu zu bleiben. Zum Schluß lud Tom noch vier Säcke mit je einem halben Zentner Sand in den Plymouth. Sie verließen Green River am Tag vor Allerheiligen und fuhren nach Osten.

Am 2. November mittags kamen sie in Grand Junction an. Und wie sich herausstellte, hätte die Fahrt keine drei Stunden länger dauern dürfen. Der Himmel war schon den ganzen Vormittag bleigrau gewesen, und als sie die Hauptstraße hinunterfuhren, fing es an zu schneien. Die Flocken wirbelten über die lange Kühlerschnauze des Plymouth. Schon unterwegs hatte es ein paar Schneeschauer gegeben, aber das hier war kein Schauer. Der Himmel versprach heftigen Schneefall.

»Such dir aus, wo du wohnen willst, Tom. Hier werden wir wohl eine Weile bleiben.«

Tom zeigte: »Da! Das Motel mit dem Stern drauf!«

Das Motel mit dem Stern drauf war das Grand Junction Holiday Inn. Unter dem Stern und dem bekannten Namenszug war ein Transparent angebracht, auf dem in großen roten Buchstaben zu lesen stand: ILLKOMMEN INGR NDJUNC ION ZUM SOMMERF ST'90! 12. JUNI BIS 4. JULI!

»Okay«, sagte Stu. »Also ins Holiday Inn.« Er fuhr auf den Parkplatz, stellte den Motor ab, und dort blieb der Wagen stehen. Er rührte sich nicht mehr vom Fleck. Jedenfalls nicht für Tom und Stu. Um zwei Uhr nachmittags fiel der Schnee nicht mehr in vereinzelten Flocken vom Himmel, sondern als dichter, weißer Vorhang, und die Flocken tanzten wild nach der verrückten Melodie des Windes. Der Schnee fiel lautlos und scheinbar endlos. Gegen vier Uhr nachmittags hatte der leichte Wind sich in einen Sturm verwandelt, der die Schneemassen vor sich her peitschte und sie mit unglaublicher Schnelligkeit zu hohen Wehen auftürmte. Es schneite die ganze Nacht. Als Stu und Tom am nächsten Morgen aufstanden, saß Kojak hinter der großen Eingangstür und sah hinaus auf eine weiße Welt, in der sich nichts rührte. Nur ein einzelner Blauhäher stolzierte auf den zerfetzten Resten einer Sonnenschutzmarkise herum, die auf der anderen Straßenseite windschief an einem Laden hing.

»Verrückte Krähe«, flüsterte Tom. »Wir sind eingeschneit, Stu, stimmt's?«

Stu nickte.

»Wie können wir nach Boulder kommen durch all das Zeug?«

»Wir warten bis zum Frühling«, sagte Stu.

»So lange?« Tom blickte betrübt drein, und Stu legte einen Arm um die breiten Schultern des kräftigen Mannes, der in seinem Innern noch ein Kind war.

»Die Zeit wird vergehen«, sagte er, aber selbst er war nicht sicher, ob sie die Geduld aufbringen würden, so lange zu warten.

In der Dunkelheit hatte Stu eine Zeitlang gestöhnt und gekeucht. Schließlich stieß er einen Schrei aus, der so laut war, daß er davon erwachte, und der Traum ließ ihn los; er lag, auf die Ellbogen gestützt, wieder in seinem Motelzimmer im Holiday Inn und starrte aus weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Er stieß einen langen, zitternden Seufzer aus und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Er hatte den Schalter bereits zweimal gedrückt, bevor ihm wieder zu Bewußtsein kam, daß es ja gar keinen Strom mehr gab - seltsam, wie schwer es fiel, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Er nahm die Coleman-Lampe vom Fußboden und zündete sie an. Als das Licht neben dem Tisch brannte, benutzte er den Nachttopf. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben dem Tisch. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß es Viertel nach drei morgens war.

Wieder dieser Traum. Der Frannie-Traum. Der Alptraum. Es war immer dasselbe: Frannie in Schmerzen, ihr Gesicht schweißgebadet, Richardson zwischen ihren Beinen, und Laurie Constable als Assistentin daneben. Frans Füße hingen in Stahlschlingen...

Pressen, Frannie. Kräftig! Gut so.

Aber wenn Stu Georges ernste Augen über der weißen Gesichtsmaske sah, wußte er, daß überhaupt nichts gut war. Im Gegenteil: Irgend etwas stimmte nicht. Laurie tupfte Fran den Schweiß vom Gesicht und strich ihr das Haar aus der Stirn. Steißlage.

Wer hatte das gesagt? Es war eine unheilverkündende, körperlose Stimme. Tief und schleppend, wie von einer zu langsam abgespielten Schallplatte.

Steißlage.

Georges Stimme: Ruf Dick. Sag ihm, vielleicht müssen wir...

Lauries Stimme: Doktor, sie verliert jetzt sehr viel Blut... 

Stu zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte scheußlich, aber nach diesem Traum war alles eine Erholung. Es ist ein Angsttraum. Das ist alles. Das ist die typische Macho-Vorstellung, daß alles schiefgeht, wenn du nicht dabei bist. Vergiß es, Stuart. Es geht ihr gut. Nicht alle Träume werden wahr...

Aber zu viele Träume waren im letzten halben Jahr wahr geworden. Das Gefühl, daß dieser immer wiederkehrende Traum von Frans Entbindung ihm die Zukunft zeigte, wollte ihn nicht loslassen. Er drückte die halb gerauchte Zigarette aus und starrte mit leerem Blick in das sanfte, ruhige Licht der Gaslampe. Heute war der 29. November; das Holiday Inn von Grand Junction war jetzt schon seit vier Wochen ihr Quartier. Die Zeit war langsam und zäh verronnen, aber sie hatten es geschafft, bei Laune zu bleiben, indem sie die ganze Stadt immer wieder nach interessanten Dingen durchstöbert hatten, mit denen man sich beschäftigen und die Zeit totschlagen konnte.

Stu war in der Lagerhalle eines Elektrogroßhandels an der Grand Avenue auf einen mittelgroßen Honda-Elektrogenerator gestoßen, und er und Tom hatten ihn ins Convention Center gegenüber dem Holiday Inn geschleppt, indem sie das Ding mit Hilfe eines Flaschenzuges auf einen Schlitten gehoben und dann zwei Schneemobile vor den Schlitten gespannt hatten - mit anderen Worten: Sie hatten den Generator auf eine ganz ähnliche Art und Weise transportiert wie der Mülleimermann sein allerletztes Geschenk an Randall Flagg.

»Und was tun wir damit?« fragte Tom. »Den Strom im Motel wieder anmachen?«

»Dafür ist dieser Generator zu klein«, sagte Stu.

»Warum nehmen wir ihn dann mit? Wozu?« fragte Tom voller Ungeduld.

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