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Nick legte eine Hand auf Toms Schulter, aber Tom spürte nichts... es war, als sei Nicks Hand nichts weiter als Rauch. »Wenn er stirbt, mußt du mit Kojak weiterziehen. Du mußt nach Boulder gehen und den Leuten erzählen, daß du die Hand Gottes in der Wüste gesehen hast. Wenn es Gottes Wille ist, wird Stu mit dir gehen... wenn er wieder gesund ist. Wenn es aber Gottes Wille ist, daß er stirbt, dann wird er sterben. Wie ich.«

»Nick«, sagte Tom flehentlich. »Bitte...«

»Ich habe dir mein Bein aus einem bestimmten Grund gezeigt. Es gibt nämlich Tabletten gegen Infektionen. In Geschäften wie diesem.«

Tom sah sich um und stellte fest, daß sie nicht mehr auf der Straße waren, sondern in einem dunklen Laden. Es war ein Drugstore. An Klavierdrähten hing ein Rollstuhl von der Decke herab, wie ein unheimlicher, mechanischer Leichnam. Daneben wurden auf einem Plakat Hilfen gegen Inkontinenz angepriesen.

»Ja, Sir? Was kann ich für Sie tun?«

Tom fuhr herum. Hinter dem Ladentisch stand Nick in einem weißen Kittel.

»Nick?«

»Ja, Sir.« Nick fing an, Fläschchen mit Tabletten auf dem Ladentisch aufzureihen. »Das ist Penicillin. Sehr gut gegen Lungenentzündung. Das ist Ampicillin; und das hier ist Amoxicillin. Auch beides sehr gut. Und das ist Vacillin. Das gibt man meist Kinder. Manchmal hilft es, wenn die anderen Mittel nicht wirken. Er muß viel trinken. Am besten Fruchtsäfte. Wenn du keine Fruchtsäfte auftreiben kannst, gib ihm dies: Vitamin-C-Tabletten. Außerdem muß er Bewegung haben...«

» Ich kann das alles nicht behalten!« jammerte Tom.

»Du wirst dir Mühe geben müssen. Weil kein anderer da ist. Du bist ganz allein.«

Tom fing an zu weinen.

Nick beugte sich vor. Er holte aus. Es gab keine Ohrfeige - da war bloß dieses Gefühl, daß Nick nur Rauch war und an Tom vorbei oder durch ihn hindurch ging. Trotzdem ruckte Toms Kopf zur Seite.

Irgend etwas in seinem Schädel schien einzurasten.

»Hör auf damit, Tom! Benimm dich nicht wie ein Baby! Sei ein Mann!

Um Himmels willen, sei ein Mann!«

Tom starrte Nick entgeistert an, eine Hand an der Wange, die Augen weit aufgerissen.

»Stu muß aufstehen«, sagte Nick. »Du mußt ihm helfen, auf seinem guten Bein zu stehen. Zieh ihn hoch und stütz ihn. Er darf nicht die ganze Zeit liegen.«

»Er ist nicht bei Verstand«, sagte Tom. »Er schreit... er schreit Leute an, die gar nicht da sind.«

»Er phantasiert. Trotzdem muß er aufstehen, sooft es geht. Gib ihm das Penicillin. Immer eine Tablette. Gib ihm Aspirin. Halt ihn warm. Bete. Das alles kannst du tun.«

»Ja, Nick, ja. Ich will versuchen, ein Mann zu sein. Ich will versuchen, das alles zu behalten. Aber ich wünschte, du könntest bei mir bleiben. Meine Fresse, ja.«

»Tu dein Bestes, Tom. Das ist alles.«

Nick war verschwunden. Tom kam zu sich und stand in dem verlassenen Drugstore vor dem Ladentisch, auf dem vier Fläschchen mit Tabletten lagen. Tom starrte sie lange an, bevor er sie einsteckte.

Als Tom zurückkam, war es vier Uhr morgens. Er hatte einen frostigen Panzer aus Hagelkörnern auf den Schultern. Im Osten wurde der Himmel schon ein wenig hell. Kojak begrüßte Tom mit begeistertem Gebell, und Stu stöhnte und wachte auf. Tom kniete sich neben ihn auf den Boden. »Stu?«

»Tom? Ich kann kaum atmen.«

»Ich habe Medizin, Stu. Nick hat sie mir gezeigt. Du nimmst sie, dann wirst du diese Infektion los. Du mußt gleich eine nehmen.«

Tom holte die vier Fläschchen mit Tabletten und eine große Flasche Fruchtsaft aus einer Plastiktüte. Zu seiner Erleichterung hatte er festgestellt, daß es in der Green River Superette genügend Fruchtsaft gab.

Stu betrachtete die Tabletten, indem er sie ganz dicht vor die Augen hielt. »Tom, woher hast du das?«

»Aus dem Drugstore. Nick hat sie mir gegeben.«

»Nein, also ehrlich.«

»Ehrlich! Ehrlich! Zuerst mußt du das Penicillin nehmen, damit wir sehen, ob es hilft. Auf welcher steht Penicillin?«

»Auf dieser... aber Tom...«

»Nein. Du mußt. Nick hat es gesagt. Und du mußt aufstehen und herumgehen.«

»Ich kann nicht gehen. Mein Bein ist gebrochen. Und ich bin krank.«

Stus Stimme wurde mürrisch, aufsässig. Eine richtige Krankenzimmerstimme.

»Du mußt. Oder ich zieh' dich hoch«, sagte Tom.

Stu fing wieder an zu phantasieren. Tom schob ihm eine Penicillintablette in den Mund und gab ihm Fruchtsaft zu trinken. Stu schluckte den Saft und die Tablette reflexhaft und bekam einen gräßlichen Hustenanfall. Tom klopfte ihm den Rücken, als sei er ein Baby. Dann zerrte er ihn von seinem Lager hoch und schleifte ihn durch die Empfangshalle, wobei Kojak ihnen ängstlich folgte.

»Bitte, lieber Gott«, sagte Tom. »Bitte, lieber Gott. Bitte.«

Stu schrie: »Ich weiß, wo ich ihr ein Waschbrett besorgen kann, Glen! In diesem Musikladen gibt es welche! Ich habe sie im Fenster gesehen!«

»Bitte, lieber Gott«, keuchte Tom. Stus Kopf lehnte an Toms Schulter. Er war heiß wie ein Backofen. Das geschiente Bein schleifte kraftlos über den Fußboden.

Boulder schien nie so weit entfernt gewesen wie an diesem trostlosen Morgen.

Stus Kampf mit der Lungenentzündung dauerte zwei Wochen. Er trank literweise Multivitaminsäfte, V -8, Welch's Traubensaft und verschiedene Marken Orangensaft. Er merkte kaum, was er trank. Sein Urin roch stark und scharf, und sein Stuhlgang war gelb und locker wie der eines Babys. Er konnte nicht zur Toilette gehen. Tom hielt ihn sauber. Tom schleifte ihn durch die Eingangshalle des UtahHotels. Und die ganze Zeit wartete Tom auf die Nacht, in der er aufwachen würde, nicht weil Stu im Schlaf phantasierte, sondern weil seine unregelmäßigen Atemzüge nicht mehr zu hören waren. Nachdem Stu das Penicillin zwei Tage lang genommen hatte, bekam er einen häßlichen roten Hautausschlag, und Tom gab ihm Ampicillin. Dieses Mittel war besser. Als Tom am 7. Oktober aufwachte, sah er, daß Stu tiefer und ruhiger als sonst schlief. Sein ganzer Körper war schweißnaß, aber seine Stirn war kühl. Das Fieber war zurückgegangen. Die nächsten zwei Tage schlief Stu fast ohne Unterbrechung. Tom hatte Schwierigkeiten, ihn soweit wachzurütteln, daß er seine Tabletten und den Würfelzucker aus dem Restaurant des Utah-Hotels nahm.

Am 11. Oktober bekam Stu einen Rückfall, und Tom hatte furchtbare Angst, daß jetzt das Ende käme. Aber das Fieber stieg nicht mehr so hoch, und Stu atmete nicht so mühsam wie an jenen schrecklichen ersten Tagen im Utah-Hotel.

Als Tom am 13. Oktober aus einem unruhigen Schlaf in einem der Hotelsessel erwachte, saß Stu aufrecht auf seinem Lager und sah sich um. »Tom«, flüsterte er, »ich lebe.«

»Ja«, jubelte Tom, »meine Fresse, ja!«

»Ich habe Hunger. Könntest du etwas Suppe besorgen, Tom? Vielleicht mit Nudeln drin?«

Am Achtzehnten war er schon etwas zu Kräften gekommen. Tom hatte ihm Krücken aus dem Drugstore geholt, auf denen er durch die Empfangshalle humpelte. Er schaffte schon fünf Minuten, ohne ausruhen zu müssen. Der Heilvorgang in seinem gebrochenen Bein machte sich durch ständiges Jucken bemerkbar, das ihn fast verrückt machte. Verpackt in dicke, wollene Unterwäsche und einen riesigen Schaffellmantel ging er am 20. Oktober zum ersten Mal wieder ins Freie.

Der Tag war warm und sonnig, aber die Luft schmeckte kühl. In Boulder herrschte wahrscheinlich noch mildes Herbstwetter, das die Blätter an den Bäumen golden färbte, aber hier kündigte sich der Winter schon unmißverständlich an. Stu konnte kleine Flecken gefrorenen, körnigen Schnees an jenen schattigen Stellen sehen, die nie ein Sonnenstrahl erreichte.

»Ich weiß nicht, Tom«, sagte er. »Bis Grand Junction könnten wir es vielleicht schaffen, aber weiter weiß ich nicht. Es wird eine Menge Schnee in den Bergen geben, und ich kann mir nicht viel zumuten. Ich muß erst wieder richtig auf die Beine kommen.«

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