In der Nähe von Grand Junction besorgte er sich ein neues Fahrrad, und am 25. Juli hatte er das westliche Utah auf der Route 4 hinter sich gelassen, die die I-89 im Osten mit der nach Südwesten verlaufenden 115 verbindet, welche vom Norden von Salt Lake City bis nach San Bernadino, Kalifornien, verläuft. Und als sich der Vorderreifen seines neuen Fahrrads plötzlich entschied, sich vom Gestell zu trennen und auf sich allein gestellt in die Wüste zu rollen, wurde der Mülleimermann über die Lenkstange geschleudert und landete auf dem Kopf, ein Sturz, der ihm den Schädel hätte brechen müssen (er fuhr vierzig, als es passierte, und hatte keinen Helm auf). Dennoch konnte er weniger als fünf Minuten später aufstehen und mit verzerrtem Gesicht seinen kleinen schlurfenden Tanz ausführen, während ihm Blut aus einem halben Dutzend Kratzern und Schürfwunden ins Gesicht floß, und singen: » Cii-a-bo-la, mein Leben für dich, Ci-a-bo-la, bumpty, bumpty, bump!«
Es gibt für die seelisch Geschlagenen oder Geschundenen wirklich keinen besseren Trost als eine gute, kräftige Dosis von »Dein Wille geschehe«.
Am 7. August kam Lloyd Henreid in das Zimmer, das der ausgetrocknete und halb im Delirium befindliche Mülleimermann tags zuvor zugewiesen bekommen hatte. Es war ein schönes Zimmer im dreißigsten Stock des MGM Grand. Es hatte ein rundes Bett mit Seidenlaken und an der Decke einen runden Spiegel, der genauso groß wie das Bett zu sein schien.
Mülleimer sah Lloyd an.
»Wie geht es dir, Müll?« fragte Lloyd und sah ihn auch an.
»Gut«, sagte der Mülleimermann. »Besser.«
»Essen, Wasser und Ruhe, mehr hast du nicht gebraucht«, sagte Lloyd. »Ich hab' dir saubere Kleidung gebracht. Die Größe mußte ich schätzen.«
»Sieht gut aus.« Müll hatte sich seine Kleidergröße nie merken können. Er nahm die Jeans und das Baumwollhemd, die Lloyd ihm anbot.
»Komm runter frühstücken, wenn du angezogen bist«, sagte Lloyd. Er redete fast unterwürfig mit ihm. »Wir essen fast alle im Speisesaal.«
»Okay. Klar.«
Im Speisesaal war das Summen der Unterhaltungen zu hören, und er blieb draußen um die Ecke stehen, weil er es plötzlich mit der Angst bekam. Wenn er eintrat, würden sie ihn ansehen. Sie würden ihn ansehen und lachen. Jemand würde im hinteren Teil des Saals anfangen zu kichern, jemand anders würde einstimmen, und dann würde der ganze Saal ein Aufruhr prustenden Gelächters und deutender Finger sein.
He, versteckt die Streichhölzer, der Mülleimermann kommt!
He, Müll! Was hat die alte Oma Semple gesagt, als du ihren Rentenscheck verbrannt hast?
Pinkelst du oft ins Bett, Müll?
Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus, und er fühlte sich schmutzig, obwohl er geduscht hatte, nachdem Lloyd gegangen war. Er erinnerte sich an sein Gesicht im Badezimmerspiegel, das mit langsam heilendem Schorf bedeckt war, den zu hageren Körper, die für die gähnenden Höhlen zu kleinen Augen. Ja, sie würden lachen. Er lauschte dem Summen der Gespräche, dem Klirren vo n Silberbesteck und dachte, daß er sich einfach davonschleichen sollte.
Dann dachte er daran, wie der Wolf so behutsam seine Hand genommen und ihn von der Metallgruft des Kid weggeführt hatte, und er reckte die Schultern und trat ein.
Ein paar Leute sahen kurz auf und wandten sich dann wieder dem Essen und ihren Gesprächen zu. Lloyd saß an einem großen Tisch mitten im Saal, hob einen Arm und winkte ihm zu. Müll bahnte sich unter einer erloschenen Keno-Anzeigentafel den Weg zwischen den Tischen hindurch. Drei weitere Männer saßen an dem Tisch. Sie aßen alle Rührei mit Schinken.
»Bedien dich«, sagte Lloyd. »Es ist eine Art Wasserbad.«
Der Mülleimermann nahm ein Tablett und bediente sich. Der Mann hinter dem Tresen, der groß war und das schmutzige Weiß eines Kochs trug, beobachtete ihn.
»Sind Sie Mr. Horgan?« fragte der Mülleimermann schüchtern. Horgan grinste und entblößte lückenhafte Zähne. »Ja, aber wir kommen nicht weiter, wenn du mich so nennst, Junge. Nenn mich Whitey. Geht's dir etwas besser? Als du hergekommen bist, haste wie der Zorn Gottes ausgesehen.«
»Ja, viel besser.«
»Greif bei den Eiern zu. Soviel du willst. Aber paß mit den Fritten auf. Die Dinger sind alt und zäh. Schön, daß du da bist, Junge.«
»Danke«, sagte Müll.
Er ging wieder zu Lloyds Tisch.
»Müll, das hier ist Ken DeMott. Der Junge mit der kahlen Stelle ist Hector Drogan. Und der Bengel hier, der im Gesicht züchten will, was ihm ums Arschloch herum wild wächst, nennt sich Ace High.«
Alle nickten ihm zu.
»Das ist unser neuer Junge«, sagte Lloyd. »Sein Name ist Mülleimermann.«
Ringsum wurden Hände geschüttelt. Müll machte sich über die Eier her. Er sah den jungen Mann mit dem flaumigen Bart an und sagte mit leiser, höflicher Stimme: »Würden Sie mir bitte das Salz reichen, Mr. High?«
Sie sahen einander einen Moment überrascht an, dann prusteten sie alle vor Lachen. Müll sah sie an und spürte Panik in der Brust aufsteigen, und dann hörte er das Lachen, hörte es wirklich, mit dem Herzen wie mit den Ohren, und begriff, daß nichts Böses dabei war. Hier würde ihn niemand fragen, warum er statt der Kirche lieber die Schule niedergebrannt hatte. Niemand würde ihn wegen dem Rentenscheck der alten Oma Semple aufziehen. Er konnte auch lächeln, wenn er wollte. Und er lächelte.
»Mr. High«, kicherte Hector Drogan. »O Ace, eben bist du aber drangekriegt worden. Mr. High. Ich lach' mich tot. Minister Haaaaiii. Mann, das ist vielleicht ein Knüller.«
Ace High gab Mülleimer das Salz. »Nur Ace, Mann. Darauf hör' ich immer. Du nennst mich nicht Mr. High und ich nenn' dich nicht Mr. Mann, abgemacht?«
»Okay«, sagte Mülleimermann immer noch lächelnd. »Prima.«
»Oh, Mr. Hiiiigh!« sagte Heck Drogan mit schriller Falsettstimme. Dann fing er wieder an zu lachen. »Ace, das wird dir ewig anhängen. Ich schwor's dir.«
»Vielleicht, aber ich werd' auf jeden Fall das Beste draus machen«, sagte Ace High und stand mit seinem Teller auf, um sich noch Eier zu holen. Dabei legte er Müll einen Moment die Hand auf die Schulter. Die Hand war warm und fest. Es war eine freundliche Hand, die nicht drückte oder kniff.
Der Mülleimermann verschlang die Eier und fühlte sich innerlich gut und warm. Dieses warme Hochgefühl war seiner Natur so fremd, daß es ihm fast wie eine Krankheit vorkam. Er versuchte beim Essen, es zu isolieren und zu verstehen. Er sah auf, betrachtete die Gesichter ringsum und glaubte zu verstehen, was es war. Glücklichsein.
Was für gute Menschen, dachte er.
Und dem dicht auf den Fersen: Ich bin daheim.
An diesem Tag durfte er sich noch ungestört ausschlafen, aber am nächsten wurde er zusammen mit zahlreichen anderen mit einem Bus zum Damm von Boulder gefahren. Dort verbrachten sie den Tag damit, Kupferdraht um die Spulen ausgebrannter Motoren zu wickeln. Er arbeitete an einer Bank mit Blick aufs Wasser - Lake Mead - und niemand überwachte ihn. Der Mülleimermann vermutete, daß es keine Vorarbeiter oder so jemanden gab, weil alle ihre Arbeit so sehr liebten wie er auch.
Am nächsten Tag erfuhr er, daß es anders war.
Es war Viertel nach zehn am Morgen. Der Mülleimermann saß auf seiner Bank und wickelte Kupferdraht, aber sein Verstand war eine Million Meilen entfernt, während die Finger ihre Arbeit machten. Er komponierte im Geiste einen Lobespsalm für den dunklen Mann. Er hatte sich überlegt, daß er ein großes Buch besorgen wollte (wahrhaftig ein BUCH), in das er alle Gedanken über ihneintrug. Vielleicht wollten die Leute so ein Buch einmal lesen. Leute, die so für ihnempfanden wie der Mülleimermann.