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Der Mülleimermann begann seinen Fußmarsch an diesem Tag gegen zehn Uhr dreißig MDT vormittags. Er kam langsam voran und mußte häufig über Hauben und Dächer von Autos klettern, so dicht standen sie, und als er das erste TUNNEL-GESPERRT-Schild erreichte, war es bereits Viertel nach drei nachmittags. Er hatte etwa zwölf Meilen zurückgelegt. Zwölf Meilen waren nicht viel - nicht für jemand, der zwanzig Prozent des Landes auf dem Fahrrad durchquert hatte -, aber wenn man die Hindernisse bedachte, waren zwölf Meilen recht eindrucksvoll. Er hätte schon längst umkehren und Kid sagen können, daß es unmöglich war... das heißt, wenn er je die Absicht gehabt hätte, wieder umzukehren. Was er selbstverständlich nicht hatte. Der Mülleimermann hatte nie viel über Geschichte gelesen (nach der Elektroschocktherapie war ihm das Lesen irgendwie schwergefallen), aber er mußte auch nicht wissen, daß in alten Zeiten Könige und Kaiser Überbringer schlechter Nachrichten häufig aus simpler Pikiertheit töten ließen. Was er wußte, war ausreichend: Er hatte genügend von Kid gesehen, um zu wissen, daß er nicht noch mehr sehen wollte.

Er stand da und betrachtete das Schild, schwarze Buchstaben auf orangefarbenem, rautenförmigem, Grund. Es war umgefahren worden und lag unter dem Reifen eines Yugo, der wie der älteste der Welt aussah. TUNNEL GESPERRT. WelcherTunnel? Er sah voraus, schirmte die Augen ab und dachte, er könnte etwassehen. Er ging dreihundert Meter weiter, kletterte über Autos, wenn es erforderlich war, und kam zu einem beunruhigenden Wirrwarr verkeilter Fahrzeuge und Leichen. Manche Autos und Lastwagen waren bis auf die Achsen niedergebrannt. Bei vielen handelte es sich um Armeefahrzeuge. Viele Leichen trugen Khaki. Hinter diesem Schauplatz eines Kampfes - Müll war sicher, daß es sich darum handelte - begann der Verkehrsstau wieder. Und dahinter verschwand der Verkehr Richtung West und Ost in den beiden dunklen Löc hern eines Tunnels, den ein in den Fels geschraubtes Schild als EISENHOWER TUNNEL identifizierte.

Er trat mit klopfendem Herzen näher, wußte aber nicht recht, was er eigentlich vorhatte. Der in den Fels hineingetriebene Doppelschacht schüchterte ihn ein, und als er näherkam, wurde daraus regelrechtes Entsetzen. Er hätte voll und ganz verstanden, was Larry Underwood vor dem Lincoln Tunnel empfunden hatte; in diesem Augenblick waren sie unwissentlich verwandte Seelen, in nacktem Grausen vereint.

Der Hauptunterschied war der, daß der Fußgängerweg im Lincoln Tunnel hoch über der Straße lag, hier dagegen so niedrig, dass manche Autos tatsächlich versucht hatten, an der Seite zu fahren, zwei Reifen auf dem Fußweg und zwei auf der Straße. Der Tunnel war zwei Meilen lang. Man konnte ihn nur durchqueren, indem man in völliger Finsternis von Auto zu Auto kroch. Das würde Stunden dauern.

Der Mülleimermann spürte, wie seine Eingeweide zu Wasser wurden.

Er sah lange Zeit in den Tunnel hinein. Larry Underwood hatte seinen Tunnel vor mehr als einem Monat trotz seiner Angst betreten. Nach reiflicher Überlegung drehte sich der Mülleimermann um und ging mit hängenden Schultern und zuckenden Mundwinkeln Richtung Kid zurück. Er machte nicht nur kehrt, weil es keine mühelose Möglichkeit zu gehen gab oder weil der Tunnel so lang war (Müll hatte sein ganzes Leben in lowa verbracht und keine Ahnung, wie lang der Eisenhower Tunnel war). Larry Underwood war von Eigennutz getrieben (möglicherweise beherrscht) worden, von der simplen Logik des Überlebens. New York war eine Insel, er mußte runter. Der Tunnel war der schnellste Weg. Also wollte er, so schnell es ging, hindurch, so wie man sich die Nase zuhielt und schnell schluckte, wenn man wußte, die Medizin schmeckte schlecht. Der Mülleimermann war eine geschlagene Kreatur und daran gewöhnt, die Hiebe und Knüffe des Schicksals und seiner eigenen unerklärlichen Natur hinzunehmen... und zwar mit gesenktem Kopf. Seine katastrophale Begegnung mit The Kid hatte ihn darüber hinaus entmannt, sie war fast einer Gehirnwäsche gleichgekommen. Er war mit Geschwindigkeiten dahingebraust, die Gehirnschäden hervorrufen konnten. Er war unter Todesdrohung gezwungen worden, eine Dose Bier in einem Zug leerzutrinken und sich hinterher nicht zu übergeben. Er war zu Analverkehr mit einem Revolverlauf gezwungen worden. Er wäre fast dreihundert Meter tief vom Straßenrand abgestürzt. Konnte er es, als krönenden Abschluß, da noch ertragen, durch ein Loch im Berg zu kriechen, ein Loch, in dem er wer weiß welche Schrecken der Dunkelheit kennenlernen mochte? Nein. Andere vielleicht, aber nicht der Mülleimermann. Zudem besaß die Vorstellung umzukehren eine gewisse Logik. Zugegeben, es war die Logik des Geschlagenen und halb Wahnsinnigen, aber sie besaß dennoch ihre ureigene perverse Faszination. Er war nicht auf einer Insel. Wenn er den ganzen restlichen heutigen und den morgigen Tag zurückgehen mußte, um eine Straße zu finden, die über den Berg führte, anstatt durch ihn hindurch, würde er es auf sich nehmen. Richtig, er mußte an Kid vorbei, aber er dachte, Kid könnte seine Meinung geändert haben und schon aufgebrochen sein, obwohl er das Gegenteil geschworen hatte. Vielleicht war er sturzbetrunken. Vielleicht war er auch (obwohl Müll bezweifelte, daß ihm so außergewöhnliches Glück widerfahren würde) schon tot. Schlimmstenfalls konnte Müll, sofern Kid noch da war, noch beobachtete und wartete, einfach abwarten, bis es dunkel wurde, und dann an ihm vorbeischleichen wie ein ( Wiesel) kleines Tier im Unterholz. Dann würde er einfach weiter nach Osten gehen, bis er die Straße gefunden hatte, die er suchte.

Er kam zu dem Tanklastwagen, von dem er Kid und dessen mythisches Coupe zuletzt gesehen hatte; auf dem Rückweg war er schneller vorangekommen. Diesmal kletterte er nicht hinauf, wo er als Silhouette vor dem Abendhimmel leicht zu sehen gewesen wäre, sondern kroch auf Händen und Knien von einem Auto zum anderen und versuchte, ganz leise zu sein. Vielleicht war Kid wach und wachsam. Bei einem wie Kid konnte man nie wissen... und es zahlte sich nicht aus, Risiken einzugehen. Er wünschte sich, er hätte die Waffe eines der Soldaten mitgenommen, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nie geschossen hatte. Er kroch weiter; die spitzen Steine auf der Straße bohrten sich schmerzhaft in seine Klauenhand. Es war acht Uhr, die Sonne war hinter den Bergen untergegangen.

Müll duckte sich hinter die Haube des Porsche, an den Kid die Whiskeyflasche geworfen hatte, und spähte vorsichtig darüber. Ja, da war Kids Coupe mit der glänzenden Goldbemalung, der konvexen Scheibe und der Haifischflosse, die in den blutergußfarbenen Himmel stach. Kid saß zusammengesunken hinter dem fluoreszierenden Lenkrand und hatte die Augen zu und den Mund offen. Mülleimers Herz klopfte einen trommelnden Siegestanz in der Brust. Hackevoll! verkündete sein Herz in zwei Schlägen. Hackevoll! Bei Gott! Hackevoll!Müll dachte, er könnte zwanzig Meilen östlich sein, bis Kid mit seinem Kater aufwachte.

Trotzdem war er vorsichtig. Er huschte von einem Auto zum nächsten wie ein Wasserfloh, der über die ruhige Oberfläche eines Teichs hüpft, umrundete das Coupe links, hastete über die immer breiteren Lücken. Jetzt lag das Coupe bei neun Uhr links von ihm, jetzt bei sieben und jetzt bei sechs, direkt hinter ihm. Jetzt nur noch Entfernung zwischen sich und diesen verrückten...

»Bleib bloß stehen, du brunzdummer Schwanzlutscher.«

Müll erstarrte auf Händen und Knien. Er machte Pipi in die Hose, sein Verstand verwandelte sich in eine irre flatternde Amsel der Panik.

Er drehte sich um, die Sehnen in seinem Hals ächzten wie Türangeln in einem Spukhaus. Und da stand Kid. Er trug jetzt ein irisierendes grünes Hemd und ein Paar sonnengebleichte Cordhosen. In jeder Hand einen Fünfundvierziger, das Gesicht eine Grimasse aus Hass und Wut.

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