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Nicht einmal Kid konnte auf diesen Straßen mit neunzig dahindonnern. Er bremste auf sechzig ab und verfluchte die verdammten Berge unablässig. Dann strahlte er. »Wenn wir drüben in Utah und Nevada sind, holen wir jede Menge Zeit auf, Mülli. Mein kleiner Schatz hier schafft hunnertsechzig auf der Ebene. Glaubst die Heißescheiße?«

»Echt tolles Auto«, sagte Müll mit einem Lächeln wie ein kranker Hund.

»Kannst Gift rauf nehmen.« Er trank Rebell Yell. Spülte mit Pepsi nach. Schrie aus voller Brust Yahoo!

Müll betrachtete morbid die vorüberrasende Landschaft, die jetzt im morgendlichen Sonnenschein erstrahlte. Die Interstate war in den Berg gesprengt worden, manchmal fuhren sie zwischen gigantischen Felsklippen dahin. Es waren genau die Klippen, die er in der Nacht zuvor in seinem Traum gesehen hatte. Würden sich die roten Augen nach Einbruch der Dunkelheit vielleicht wieder öffnen? Er erschauerte.

Wenig später stellte er fest, daß sie von sechzig auf vierzig abgebremst hatten. Dann auf dreißig. Kid fluchte monoton und gräßlich. Das Coupe fuhr Slalom durch zunehmend dichteren Verkehr, der ausnahmslos stand und totenstill war.

»Was soll denn dieKacke?« tobte Kid. »Was haben die denn bloss gemacht? Alle beschlossen, gemeinsam in dreitausend Meter Höhe zu krepieren? He, ihr dummen Wichser, aus'm Weg mit euch! Habt ihr nicht gehört? Los! Aus'm Weg, verdammt!«

Mülleimermann verkroch sich im Sitz.

Sie kamen um eine Kurve und sahen einen schlimmen Unfall mit vier Autos, die die westlichen Fahrspuren der 1-70 vollständig versperrten. Ein toter Mann voll Blut, das längst zu einer rissigen, unebenmäßigen Glasur erstarrt war, lag mit von sich gestreckten Gliedmaßen Gesicht nach unten auf der Straße. Neben ihm lag eine zerschellte Chatty-Cathy-Puppe. Der Weg links um des Unfall herum wurde von zwei Meter hohen stählernen Leitpfosten versperrt. Rechts fiel das Land in wolkige Tiefe ab.

Kid trank Rebell Yell und steuerte das Coupe Richtung Abgrund.

»Festhalten, Mülli«, flüsterte er, »wir fahren drumrum.«

»Kein Platz«, krächzte Mülleimermann. Sein Hals fühlte sich an wie eine Eisenraspel.

»Doch, reicht gerade«, flüsterte Kid. Seine Augen funkelten. Er steuerte das Auto von der Straße. Die rechten Reifen zischten im Staub des Straßenrands.

»Ohne mich«, sagte Mülleimer hastig und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

»Sitzenbleiben«, befahl Kid, »oder du bist ein toter Schleimbeutel.«

Müll drehte sich um und sah in den Lauf eines Fünfundvierzigers. Kid kicherte nervös.

Mülleimermann lehnte sich zurück. Er wollte die Augen zumachen, konnte es aber nicht. Auf seiner Seite des Autos verschwanden die letzten zehn Zentimeter Böschung außer Sichtweite. Er sah ein langgezogenes Panorama blaugrauer Pinien und riesiger Felsblöcke. Er konnte sich vorstellen, wie die Breitreifen des Coupes noch acht Zentimeter vom Abgrund entfernt waren... noch vier...

»Noch ein Zentimeter«, sang Kid mit aufgerissenen Augen und breitem Grinsen. »Nur... noch... einer

Dann ging alles sehr schnell. Mülleimermann spürte, wie der rechte Hinterreifen des Autos plötzlich nach außen und steil abwärts rutschte. Er hörte eine abstürzende Lawine, erst kleine Kiesel, dann größere Steine. Er schrie. Kid fluchte gräßlich, schaltete in den ersten Gang und trat das Gaspedal durch. Links, wo sie sich millimeterweise am umgestürzten Wrack eines VWBus vorbeigetastet hatten, ertönte das Knirschen von Metall auf Metall.

» Flieg!« schrie Kid. » Flieg wie ein Vogel! Flieg! Gottverdammt, FLIEG!«

Die Hinterreifen des Coupe drehten durch. Einen Augenblick schienen sie sich noch mehr dem Abgrund zuzuneigen. Dann schnellte das Auto vorwärts, nach oben, und sie waren wieder auf der Straße, auf der anderen Seite des Unfalls, und gaben Gas.

» Ich hab' dir doch gesagt, daß wir es schaffen!« schrie Kid triumphierend. » Gottverdammt! Harn wir's nicht geschafft? Habn wir's nicht geschafft, Mülli, elender, feiger Schwanzlutscher?«

»Wir haben es geschafft«, sagte der Mülleimermann leise. Er zitterte am ganzen Körper. Er konnte es nicht verhindern. Und dann sagte er zum zweiten Mal, seit er Kid getroffen hatte, unwissentlich das einzige, das ihm das Leben rettete - hätte er es nicht gesagt, hätte Kid ihn zweifellos erschossen; für ihn wäre es eine seltsame Form von Feier gewesen. »Gut gefahren, Sportsfreund«, sagte er. Er hatte in seinem ganzen Leben noch niemanden »Sportsfreund« genannt.

»Ach... so gut auch wieder nicht«, sagte Kid verächtlich. »Es gibt mindestens noch zwei im Land, die das geschafft hätten. Glaubste die Heißescheiße ?«

»Wenn du meinst, Kid.«

»Brauchst mir nichts zu sagen, Süßer, ich sag's dir. Und weiter geht's. Augen zu und durch.«

Aber sie fuhren nicht lange weiter. Fünfzehn Minuten später mußte das Coupe des Kid endgültig anhalten, achtzehnhundert Meter oder mehr von seinem Ausgangspunkt in Shreveport, Louisiana, entfernt.

»Das kann ich nicht glauben«, sagte Kid. »Verflucht noch mal... das kann ich nicht... GLAUBEN!«

Er riß die Fahrertür auf und sprang hinaus, ohne die noch viertelvolle Flasche Rebell Yell aus der Hand zu geben.

»RUNTER VON MEINER STRASSE!« brüllte Kid und tanzte in seinen grotesken hochhackigen Stiefeln herum, eine winzige zerstörerische Naturgewalt, wie ein Erdbeben in der Flasche.

»RUNTER VON MEINER STRASSE, IHR WICHSER, IHR SEID TOT, IHR GEHÖRT ALLE AUF 'N FRIEDHOF, IHR HABT AUF MEINER STRASSE NICHTS ZU SUCHEN!«

Er warf die Flasche Rebell Yell, die sich überschlug und bernsteinfarbene Flüssigkeit verspritzte. An der Flanke eines alten Porsche zerschellte sie in tausend Scherben. Kid stand schweigend da, keuchte und wippte leicht auf den Schuhsohlen. Diesmal war das Problem keine Kleinigkeit wie ein Unfall mit vier Wagen. Diesmal bildete der Verkehr an sich das Problem. Hier wurden die Fahrspuren in östliche und westliche Richtung von einem etwa zehn Meter breiten begrünten Mittelstreifen getrennt, und das Coupe hätte es möglicherweise von einer Seite des Highway auf die andere geschafft, aber der Zustand war auf beiden Fahrspuren derselbe: Auf den vier Fahrspuren stand sechsspurig der Verkehr, Stoßstange an Stoßstange und Seite an Seite. Die Standspuren waren so verstopft wie die Fahrbahn. Ein paar Fahrer hatten sogar versucht, auf dem Mittelstreifen selbst weiterzukommen, obwohl dieser uneben und voller Felsbrocken war, die wie Drachenzähne aus dem grauen Boden ragten. Vielleicht hätten hohe Geländewagen mit Allradantrieb hier Erfolg gehabt, aber Müll sah nur einen Friedhof mit schrottreifem, zerschelltem und verbeultem Blech aus Detroit. Es war, als wären alle Fahrer gleichzeitig vom selben Wahnsinn überkommen worden und hätten beschlossen, hier hoch auf der I-70 ein wahnsinniges Carambolagerennen zu veranstalten. Colorado Rocky Mountain High, dachte der Mülleimermann, I've seen it raining Chevies in the sky- ich habe gesehen, wie es Chevies vom Himmel regnete. Er kicherte fast und hielt sich hastig den Mund zu. Wenn Kid ihn jetzt kichern hörte, würde er höchstwahrscheinlich nie wieder kichern.

Kid kam mit seinen hochhackigen Stiefeln zurückgestapft, das sorgfältig coiffierte Haar glänzte. Sein Gesicht war das eines Zwergbasilisken. Wut loderte in den Augen. »Ich lass' das Scheißauto nicht hier«, sagte er. »Kapiert? Auf keinen Fall. Ich lass' es nicht hier. Lauf los, Mülli. Lauf los und sag mir, wie weit der elende Stau geht. Vielleicht ein LKW auf der Straße, ich weiß nicht. Wir können nicht umkehren. Der Straßenrand ist abgestürzt, wir würden runterrutschen. Wenn es ein umgestürzter Lastwagen ist, ist es mir scheißegal. Ich fahr' jedes einzelne Miststück über den Rand hinunter. Das kann ich, und diese Heißescheiße solltest du besser glauben. Beeil dich, Junge.«

Müll widersprach nicht. Er ging vorsichtig, zwischen den liegengebliebenen Autos durch, die Straße entlang. Er war bereit, sich zu ducken und wegzulaufen, sollte Kid schießen. Aber Kid schoß nicht. Als Mülleimer eine seiner Meinung nach sichere Entfernung zurückgelegt hatte (d. h. außer Revolverreichweite), kletterte er auf einen Tanklastzug und sah zurück. Kid, Miniaturpunkt aus der Hölle, auf die Entfernung von einer halben Meile tatsächlich nur noch so groß wie eine Puppe, lehnte mürrisch an der Seite seines Autos und trank. Mülleimermann überlegte, ob er winken sollte, kam aber zum Ergebnis, daß das doch keine so gute Idee war.

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