»Es scheint, als hätten wir noch einen langen Weg vor uns, was?«
Stu antwortete eine Weile nicht und sagte dann: »Es ist weiter, als wir dachten. Die alte Frau ist nicht mehr in Nebraska.«
»Ich weiß...«, fing sie an und verschluckte den Rest. Er sah sie resigniert grinsend an. »Sie haben Ihre Medizin nicht genommen, Ma'am.«
»Mein Geheimnis ist enthüllt«, sagte sie mit einem ebenso schwachen Lächeln.
»Wir sind nicht die einzigen«, sagte Stu. »Ich habe heute nachmittag mit Dayna gesprochen« (sie empfand den inneren Stich der Eifersucht - und Angst-, weil er ihren Namen so vertraut aussprach), »und sie sagte mir, daß weder sie noch Susan die Tabletten nehmen wollen.«
Fran nickte. »Warum hast du damit aufgehört? Hat man dich... dort unter Drogen gesetzt?«
Er ließ die Asche in den Erdbodenaschenbecher fallen. »Abends leichte Beruhigungsmittel, mehr nicht. Sie mußten mich nicht unter Drogen setzen. Ich war sicher und wohlbehalten eingesperrt. Nein, ich habe vor drei Tagen damit aufgehört, weil ich... mir abgeschnitten vorkam.« Er überlegte einen Augenblick und führte dann weiter aus:
»Glen und Harold wollen ein CB -Funkgerät holen, das war eine wirklich gute Idee. Wozu braucht man Sender-Empfänger? Damit man nicht abgeschnitten ist. Ein Freund von mir in Arnette, Tony Leominster, hatte eins in seinem Scout. Tolles Spielzeug. Man kann mit Leuten reden, und wenn man in Schwierigkeiten kommt, kann man Hilfe rufen. Diese Träume sind fast so, als hätten wir ein CB im Kopf, aber die Übertragung scheint gestört zu sein, wir können nur empfangen.«
»Vielleicht sendenwir auch«, sagte Fran leise.
Er sah sie verblüfft an.
Sie saßen eine Weile schweigend da. Die Sonne blinzelte durch die Wolken, als wollte sie auf dem Weg zum Horizont rasch Lebewohl sagen. Fran begriff, warum primitive Völker sie anbeteten. Während die gigantische Stille der fast leeren Landschaft sich von Tag zu Tag anhäufte, ihre Wahrhaftigkeit sich durch ihr bloßes Gewicht dem Gehirn einprägte, wirkten die Sonne - und der Mond, was das betraf - viel größer und wichtiger. Persönlicher. Diese großen Himmelsschiffe sah man jetzt wieder wie durch die Augen eines Kindes.
»Jedenfalls habe ich aufgehört«, sagte Stu. »Letzte Nacht habe ich wieder von diesem schwarzen Mann geträumt. Es war bis jetzt der schlimmste Traum. Er ist jetzt irgendwo in der Wüste. In Las Vegas, glaube ich. Und Frannie... ich glaube, er kreuzigt Menschen. Solche, die ihm Schwierigkeiten machen.«
» Wasmacht er?«
»Das habe ich geträumt. Reihenweise Kreuze am Highway 15, die aus Scheunenbalken und Telegrafenmasten gemacht sind. Und daran hängen Menschen.«
»Nur ein Traum«, sagte sie erschaudernd.
»Vielleicht.« Er rauchte und sah nach Westen, den rotgetönten Wolken nach. »Aber in den beiden anderen Nächten, bevor wir diese Wahnsinnigen mit den Frauen getroffen haben, habe ich von ihr geträumt - von der Frau, die sich Mutter Abagail nennt. Sie saß im Fahrerhaus eines alten Kleintransporters, der am Rand des Highway 76 parkte. Ich stand daneben, lehnte mit einem Arm am Fenster und unterhielt mich mit ihr so ungezwungen wie mit dir. Und sie sagt:
>Du mußt noch schneller mit ihnen reisen, Stuart; wenn eine alte Dame wie ich es kann, sollte es ein großer, kräftiger Bursche aus Texas erst recht können !<« Stu lachte, ließ die Zigarre fallen, zertrat sie unter dem Absatz. Auf geistesabwesende Weise, als wüßte er nicht, was er tat, legte er Frannie einen Arm um die Schulter.
»Sie fahren nach Colorado«, sagte sie.
»Äh, ja, das glaube ich auch.«
»Haben... haben Dayna oder Susan von ihr geträumt?«
»Beide. Und letzte Nacht hat Susan von den Kreuzen geträumt. Genau wie ich.«
»Es sind jetzt eine Menge Leute bei der alten Frau.«
Stu stimmte zu. »Zwanzig, vielleicht mehr. Weißt du, wir kommen fast jeden Tag an Menschen vorbei. Sie verstecken sich und warten, bis wir weg sind. Sie haben Angst vor uns, aber zu ihr... zu ihr werden sie gehen, glaube ich. Wenn die Zeit gekommen ist.«
»Oder zu dem anderen«, sagte Frannie.
Stu nickte. »Ja, oder zu ihm, Fran. Warum nimmst du das Veronal nicht mehr?«
Sie stieß einen zitternden Seufzer aus und fragte sich, ob sie es ihm sagen sollte. Sie wollte es, wußte aber nicht, wie er reagieren würde.
»Man weiß nie, was eine Frau tun wird«, sagte sie schließlich.
»Nein«, stimmte er zu. »Aber vielleicht kann man feststellen, was sie denkt.«
»Was...«, fing sie an, aber er verschloß ihr den Mund mit einem Kuß.
Sie lagen im letzten Dämmerschein im Gras. Leuchtendes Rot war kaltem Purpur gewichen, während sie sich liebten, und jetzt konnte Frannie die Sterne durch die letzten Wolken funkeln sehen. Morgen würden sie gutes Reisewetter haben. Mit etwas Glück konnten sie fast ganz Indiana hinter sich bringen.
Stu schlug träge nach einer Stechmücke, die über seiner Brust schwebte. Sein Hemd hing in der Nähe an einem Busch. Fran hatte die Bluse an, aber aufgeknöpft. Ihre Brüste rieben an Stoff, und sie dachte: Ich werde merklich dicker... noch sieht's keiner, nur ich selbst.
»Ich wollte dich schon ziemlich lange«, sagte Stu, ohne sie direkt anzusehen. »Ich glaube, das weißt du.«
»Ich wollte Schwierigkeiten mit Harold vermeiden«, sagte sie. »Und da ist noch etwas, das...»
»Harold muß noch viel lernen«, sagte Stu, »aber er hat das Zeug zu einem prima Kerl in sich, wenn er sich zusammenreißt. Du magst ihn, oder nicht?«
»Das ist nicht das richtige Wort. Es gibt im Englischen kein Wort für das, was ich für Harold empfinde.«
»Und was empfindest du für mich?« fragte er.
Sie sah ihn an und stellte fest, es war ihr unmöglich, ihm zu sagen, daß sie ihn liebte, jedenfalls so direkt, obwohl sie es wollte.
»Nein«, sagte er, als hätte sie ihm widersprochen. »Ich möchte nur klare Verhältnisse. Du willst nicht, daß Harold jetzt schon davon erfährt. Ist es nicht so?«
»Ja«, sagte sie dankbar.
»Ist auch besser so. Wenn wir uns etwas zurückhalten, regelt sich vielleicht alles von selbst. Ich habe gesehen, wie er manchmal Patty anschaut. Sie ist ungefähr in seinem Alter.«
»Ich weiß nicht...«
»Du empfindest ihm gegenüber aus Verpflichtung Dankbarkeit, richtig?«
»Ich glaube schon. Wir waren die einzigen Überlebenden in Ogunquit und...«
»Das war Zufall, Frannie, reines Glück, mehr nicht. Das verpflichtet dich zu gar nichts.«
»Vermutlich.«
»Ich glaube, ich liebe dich«, sagte er. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen.«
»Ich glaube, ich liebe dich auch. Aber da ist noch etwas...«
»Das wußte ich.«
»Du hast mich gefragt, warum ich die Tabletten nicht mehr nehme.«
Sie zupfte an ihrer Bluse und wagte nicht, ihn anzusehen. Ihre Lippen fühlten sich ungewöhnlich trocken an. »Ich habe gedacht, sie wären schlecht für das Baby«, flüsterte sie.
»Für das...« Er verstummte. Dann nahm er sie und drehte sie zu sich. »Du bist schwanger?«
Sie nickte.
»Und hast du keinem gesagt?«
»Nein.«
»Harold. Weiß Harold es?«
»Nur du.«
»Gott im Himmel«, sagte er. Er sah ihr auf eine so intensive Weise ins Gesicht, daß sie Angst bekam. Sie hatte sich zwei Möglichkeiten vorgestellt: Er würde sie auf der Stelle verlassen (was Jess zweifellos gemacht hätte, hätte er herausgefunden, daß sie von einem anderen Mann schwanger war), oder er würde sie in den Arm nehmen, ihr sagen, sie solle sich keine grauen Haare wachsen lassen, er würde sich um alles kümmern. Diese verblüffte, eingehende Musterung hatte sie nicht erwartet, und sie mußte an den Abend denken, als sie es ihrem Vater im Garten gesagt hatte. Er hatte sie ganz ähnlich angesehen. Sie wünschte sich, sie hätte Stu ihren Zustand gestanden, bevor er mit ihr geschlafen hatte. Vielleicht hätten sie dann überhaupt nicht miteinander geschlafen, aber wenigstens hätte er dann nicht das Gefühl gehabt, daß er an der Nase herumgeführt worden war, daß sie... wie lautete der alte Ausdruck? Aus zweiter Hand war. Dachte er das? Sie konnte es nicht sagen.