»Ich glaube doch. Ich komme von dort.«
Jetzt waren sie beide verblüfft. Verblüfft und erstaunt.
»Sie kennen es?« fragte Frannie fassungslos. »Sie haben sich da umgesehen?«
»Nein, ganz so war es nicht. Es...«
»Sie sind ein Lügner!« Harolds Stimme war hoch und schrill geworden.
Fran sah ein gefährliches Aufblitzen kalter Wut in Redmans Augen, dann waren sie wieder braun und freundlich. »Nein. Bin ich nicht.«
»Das sind Sie doch!«
» Halt den Mund, Harold!«
Harold sah sie gekränkt an. »Aber Frannie, wie kannst du nur glauben...«
»Und wie kannst du so unhöflich und feindselig sein?« fragte sie aufbrausend. »Willst du dir nicht wenigstens anhören, was er zu sagen hat, Harold?«
»Ich traue ihm nicht.«
Recht und billig, dachte Stu, damit sind wir quitt.
»Wie kannst du einem Menschen nicht trauen, dem du eben erst begegnet bist? Wirklich, Harold, du bist ekelhaft.«
»Ich will Ihnen erzählen, warum ich das weiß«, sagte Stu gelassen. Er gab ihnen eine Kurzfassung der Geschichte, die damit anfing, dass Campion Haps Zapfsäulen umgemäht hatte. Er schilderte seine Flucht aus Stovington vor einer Woche. Harold betrachtete mißmutig seine Hände. Er hatte ein wenig Moos ausgerissen, das er jetzt zerkrümelte. Aber das Gesicht des Mädchens zeigte grenzenlose Enttäuschung, und sie tat Stu leid. Sie war mit diesem Jungen zusammen losgefahren (der, das mußte man ihm lassen, eine gute Idee gehabt hatte) und hatte verzweifelt gehofft, irgendwo noch etwas vom alten Lauf der Dinge vorzufinden. Nun war sie enttäuscht. Bitter enttäuscht, wie man ihr deutlich ansah.
»Atlanta auch? Die Seuche hat beide Zentren erwischt?« fragte sie.
»Ja«, sagte Stu, und sie brach in Tränen aus.
Er hätte sie gern getröstet, aber das hätte der Junge nicht geduldet. Harold sah verstört zu Fran und betrachtete dann das Moos an seinen Ärmeln. Stu gab ihr sein Taschentuch. Sie dankte ihm zerstreut, ohne ihn anzusehen. Harold starrte Stu wieder wütend an, die Blicke eines trotzigen kleinen Jungen, der die ganze Plätzchendose für sich allein haben will. Wird der überrascht sein, dachte Stu, wenn er feststellt, daß ein Mädchen keine Plätzchendose ist.
Als ihr Weinen zu Schniefen geworden war, sagte sie: »Ich glaube, Harold und ich müssen uns bei Ihnen bedanken. Auf jeden Fall haben Sie uns eine lange Fahrt erspart, an deren Ende eine Enttäuschung gewartet hätte.«
»Soll das heißen, daß du ihm glaubst? Einfach so? Er erzählt dir eine irre Geschichte, und du... du kaufst sie ihm einfach ab?«
»Harold, warum sollte er lügen. Was hätte er davon?«
»Weißt du, was er im Sinn hat?« fragte Harold brutal. »Vielleicht Mord. Oder Vergewaltigung.«
»Ich selber halte nichts von Vergewaltigung«, sagte Stu freundlich.
»Davon verstehen Sie vielleicht mehr als ich.«
»Schluß jetzt!« sagte Fran. »Harold, würdest du bitte versuchen, nicht so abscheulich zu sein?«
» Abscheulich?« brüllte Harold. »Ich versuche, auf dich aufzupassen - auf uns -, und das soll abscheulich sein?«
»Sehen Sie mal«, sagte Stu und schob den Ärmel hoch. In seiner Armbeuge waren mehrere heilende Einstiche und die letzten Reste eines blauen Flecks zu sehen. »Sie haben mir alles mögliche injiziert.«
»Vielleicht sind Sie ein Junkie«, sagte Harold.
Wortlos krempelte Stu den Ärmel wieder herunter. Es ging natürlich um das Mädchen. Er hatte ihr gegenüber eine Art Besitzdenken entwickelt. Nun, einige Mädchen konnte man besitzen, andere nicht. Dieses Mädchen schien zur letzteren Sorte zu gehören. Sie war gross und hübsch und wirkte sehr frisch. Ihr dunkles Haar und die dunklen Augen unterstrichen einen Ausdruck, den man für Hilflosigkeit hätte halten können. Man übersah nur allzu leicht die Linie zwischen ihren Augenbrauen (die Ich-will-Linie, hatte Stus Mutter sie genannt), die so deutlich hervortrat, wenn sie sich aufregte, ihre geschickten Handbewegungen und selbst die Art, wie sie das Haar aus der Stirn zurückwarf.
»Und was machen wir jetzt?« fragte sie und ging gar nicht auf Harolds letzten Beitrag zur Diskussion ein.
»Auf jeden Fall weiterfahren«, sagte Harold, und als sie ihn mit dieser steilen Falte zwischen den Brauen ansah, fügte er hastig hinzu: »Irgendwohin müssen wir ja fahren. Wahrscheinlich sagt er die Wahrheit, aber das könnten wir prüfen.Und dann überlegen wir uns, was wir tun wollen.«
Fran sah Stu mit einem >Ich-will-Ihre-Gefühle-nicht-verletzen-aber<Gesichtsausdruck an. Stu zuckte die Achseln.
»Okay?« drängte Harold.
»Es kommt wohl nicht mehr drauf an«, sagte Frannie. Sie pflückte einen ausgeblühten Löwenzahnstengel und pustete, so daß die Samen wegflogen.
»Sie haben überhaupt keinen Menschen gesehen, von wo Sie gekommen sind?« fragte Stu.
»Einen Hund, der wohlauf zu sein schien. Keine Menschen.«
»Einen Hund habe ich auch gesehen.« Er erzählte ihnen von Bateman und Kojak. Als er damit fertig war, sagte er: »Ich wollte zur Küste, aber wenn Sie mir sagen, daß es dort keine Menschen gibt, nimmt mir das ziemlich den Wind aus den Segeln.«
»Tut mir leid«, sagte Harold, aber es hörte sich ganz wie das Gegenteil an. Er stand auf. »Bist du soweit, Fran?«
Sie sah Stu an, zögerte und stand ebenfalls auf. »Vielen Dank, dass Sie uns gesagt haben, was Sie wissen, Mr. Redman, auch wenn die Auskunft alles andere als gut war.«
»Einen Augenblick«, sagte Stu und stand auch auf. Er zögerte und fragte sich noch einmal, ob sie die Richtigen waren. Das Mädchen schien in Ordnung zu sein, aber der Junge war erst siebzehn und litt an einem schlimmen Fall Menschenhaß. Aber gab es noch so viele Menschen, daß man wählerisch sein konnte? Das bezweifelte Stu.
»Ich glaube, wir suchen alle andere Menschen«, sagte er. »Ich würde mich euch gern anschließen, wenn es euch recht ist.«
»Nein«, sagte Harold sofort.
Fran sah besorgt von Harold zu Stu. »Vielleicht sollten wir...«
»Vergiß es, ich sage nein.«
»Habe ich kein Stimmrecht?«
»Was ist denn los mit dir? Siehst du nicht, daß er nur eins will? Mein Gott!«
»Drei sind besser als zwei, wenn es Schwierigkeiten gibt«, sagte Stu, »und ich weiß, sie sind besser als einer.«
»Nein«, wiederholte Harold. Er legte die Hand auf den Griff der Pistole.
»Ja«, sagte Fran. »Sie sind uns willkommen, Mr. Redman.«
Harold drehte sich mit beleidigtem und wütendem Gesicht zu ihr um. Stu verkrampfte sich einen Moment, weil er dachte, Harold würde sie schlagen, aber dann entspannte er sich wieder. »So sieht das also aus, ja? Du hast nur auf die passende Gelegenheit gewartet, mich loszuwerden, ich verstehe.« Er war so wütend, daß ihm Tränen in die Augen traten, was ihn noch wütender machte. »Wenn du es so haben willst, okay. Geh mit ihm. Ich bin mit dir fertig.« Er stapfte zu der Stelle, wo die Hondas standen.
Frannie sah Stu flehentlich an, dann drehte sie sich zu Harold um.
»Einen Augenblick«, sagte Stu. »Bitte, bleiben Sie hier.«
»Tun Sie ihm nicht weh«, sagte Fran. »Bitte.«
Stu ging zu Harold, der schon auf seiner Honda saß und versuchte, die Maschine zu starten. In seiner Wut hatte er das Gas ganz aufgedreht, und es war gut für ihn, daß der Motor absoff. Wenn der Motor mit so viel Gas angesprungen wäre, hätte die Maschine sich aufgebäumt wie ein Einrad, hätte Harold an den nächsten Baum geschleudert und wäre auf ihn gestürzt.
»Bleiben Sie weg!« schrie Harold ihn wütend an, und seine Hand fiel wieder auf den Griff der Pistole. Stu legte seine Hand auf Harolds Hand und hielt mit der anderen seinen Arm fest. Harold riß die Augen weit auf, und Stu hatte das Gefühl, daß er jeden Augenblick durchdrehen könnte. Er war nicht nur eifersüchtig, das wäre eine allzu große Vereinfachung gewesen. Es ging um seine persönliche Würde und um seine Rolle als Beschützer des Mädchens. Gott weiß, was für ein Arschloch er vorher gewesen sein mochte, mit seinem fetten Wanst, den spitzen Stiefeln und der gespreizten Redeweise. Aber unter dem neuen äußeren Bild blieb die Überzeugung, daß er immer noch ein Arschloch war und es ewig bleiben würde. Darunter lag die Überzeugung, daß es so etwas wie einen Neuanfang nicht gab. Er hätte Bateman gegenüber genauso reagiert oder gegenüber einem zwölfjährigen Jungen. In jeder Dreieckssituation würde er sich als den Geringsten einschätzen.