Es war ein Spielchen, das beiden Spaß machte und das sie stärkte für den Augenblick, wenn die Kanonen sprachen.
Sobald es dunkel geworden war, ging ein Schiff Bolithos nach dem anderen ankerauf und entfernte sich langsam von der übrigen Flotte.
Bolitho stützte sich mit beiden Händen auf die Querreling und schaute angestrengt nach vorn. Er sah den blassen Umriß der Masten und das dichte Gewebe der Takelage sich vor dem Nachthimmel abzeichnen, aber wenig mehr. Relentless und Lookout waren unsichtbar, ebenso die meisten Ruderboote, die sich wie wachsame Jagdhunde vor und neben ihren großen Schützlingen tummelten.
Auf beiden Laufbrücken der Benbow stand eine Kette von Männern, die jede Meldung der Lotgasten im Vorschiff an Grubb und seine Leute durchgeben sollten.
Der Wind füllte spielerisch die gerefften Marssegel, und nur die sanften Schläge der Wellen gegen den Schiffsrumpf ließen ahnen, daß die Benbow Fahrt voraus machte.
An Backbord war ein kompakterer Schatten: die schwedische Küste.
Es hatte den Anschein, als ob sie und nicht die Schiffe sich bewegten.
«Gerade zehn, Sir!«kam die erste Lotmeldung.
Bolitho hörte, daß Herrick mit Grubb flüsterte und irgendwo ein Griffel kratzte, um die gelotete Zahl zu notieren.
Bolitho wagte nicht, aufs Hüttendeck zu klettern und nach der In-domitable zu sehen, die sehr nahe achteraus stand. Er fürchtete, etwas zu verpassen, wenn er sich auch nur einen Augenblick abwandte.
Ob die dänischen Batterien ihren Vorstoß erwarteten? Höchst unwahrscheinlich, dachte er. Kein Admiral mit normalen fünf Sinnen hätte es gewagt, eine Flotte durch diese Enge und an solch mächtigen Kanonen vorbeizuführen, geschweige denn eine solche Handvoll Schiffe wie die Bolithos.
Bei der Besprechung in der Kajüte hatte sich alles so einfach angehört, aber als die unheildrohende Küste an Backbord immer deutlicher hervortrat, war die Wirklichkeit weniger einfach zu verkraften. Bo-litho dachte an das führende Boot, das ein Stück vor den Schiffen vorwegpullte. Es war vollauf damit beschäftigt zu loten, nach patrouillierenden Wachbooten Ausschau zu halten und auf jedes verdächtige Geräusch zu achten. Und das in stockdunkler Nacht. Bolitho überlegte, welcher Offizier dort wohl das Kommando hatte. Er hatte nicht danach gefragt, denn er mußte ihnen vertrauen, wenn er auch auf ihr Vertrauen zählen wollte.
Die Boote hatten sich eine Stunde vor dem Einlaufen in die Enge von den Schiffen abgesetzt. Die Ruderer würden jetzt schon ermüdet sein und trotz nachlassender Kräfte wissen, daß es gerade jetzt auf größte Wachsamkeit ankam.
Er trat von der Reling zurück und schalt sich selber wegen seiner Sorgen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Herrick kam aus der Dunkelheit.»Scheint alles ganz ruhig zu sein,
Sir.»
«Ja. Ich vermute, daß die Dänen solch umfassende Vorbereitungen für einen direkten Angriff auf den Hafen getroffen haben, daß sie genausowenig Lust verspüren wie wir, sich in der Dunkelheit zu bewegen.»
In ein paar Stunden würden Nelsons Schiffe ankerauf gehen und auf der gleichen Route durch die Enge folgen. Vor dem endgültigen Angriff auf die dänischen Forts und verankerten Schiffe wollten sie bei der Insel Hven ankern und ihre möglicherweise bei dem Durchbruch erlittenen Schäden beheben.
Die Köpfe auf der Backbord-Laufbrücke stießen fast aneinander, als der Ruf durch die Kette von vorn nach achtern durchgegeben wurde:»Land Backbord voraus, Sir!»
Herrick reagierte sofort.»Luven Sie einen Strich an, Mr. Grubb.»
Bolitho widerstand der Versuchung, sich zu den Geschützbedienungen der Neunpfünder zu gesellen, die an den Finknetzen standen und in die Finsternis hinausstarrten. Es mußte der zweite Kutter der Ben-bow gewesen sein, der die Gefahr erkannt und gemeldet hatte.
Segel rauschten, als die Brassen angeholt wurden. Bolitho schaute auf die andere Seite, ob irgendein schläfriger Wachposten die abgeblendete Laterne des Kutters bemerkt hatte, als er dem Flaggschiff seine Warnung signalisierte. Doch er bezweifelte, daß die Dänen anders waren als Engländer. Da mußte schon allerlei passieren, bevor ein Posten sich entschloß, seinen Offizier oder gar die ganze Wache zu alarmieren, weil er >glaubte<, er hätte >etwas< gesehen. Ganze Kriege, von einzelnen Gefechten zu schweigen, waren verloren beziehungsweise gewonnen worden, weil sich jemand zu genau an die militärischen Vorschriften gehalten hatte. Bolitho nahm an, daß Wolfe irgendwo auf der Back steckte. Der Erste Offizier hatte im Augenblick keine spezielle Aufgabe. Seine Gewandtheit und sein Vorrat an Erfahrungen, die er auf allen Weltmeeren gesammelt hatte, waren unerschöpflich. Möglich, daß er etwas sah oder spürte. Vielleicht ahnte er eine gefährliche Untiefe, die selbst den Lotgasten entgangen war.
Herrick flüsterte:»Was meinen Sie, wie viele von diesen Ruderkanonenbooten oder Galeeren wir antreffen werden, Sir?»
«Die genaue Zahl ist unbekannt, Thomas. Aber mehr als zwanzig bestimmt, und das sind zu viele. Vizeadmiral Nelson beabsichtigt, über Nacht am Südrand des Mittelgrundes zu ankern, bevor er sich am nächsten Tag an die vor dem Ufer in Kiellinie verankerten dänischen Schiffe heranmacht. Er wird bei diesem Plan bleiben, egal, was wir entdecken. Aber wenn die Galeeren sich zu seinen Schiffen durchschlagen, könnte das verheerende Folgen haben.»
«Gerade zwölf!»
Grubb atmete auf.»Gefällt mir schon besser. «Er erlaubte sich ein Lächeln.
Als die Stunden sich hinzogen, kam es Bolitho vor, als ob Zentnergewichte auf ihm lasteten. Jeder Muskel schien ihm weh zu tun, und er wußte, daß es allen so ging, vom Kapitän bis zum jüngsten Schiffsjungen.
Man hörte einige erschreckte Rufe, als ein Boot an ihrer Steuerbordseite vorbeitrieb, aber es gehörte zum Geschwader. Die Kuttergäste saßen über ihre gekreuzten Riemen gebeugt und konnten vor Erschöpfung kaum noch atmen. Ein Leutnant, dessen weiße Rockaufschläge sehr deutlich in der Dunkelheit zu erkennen waren, winkte zum Flaggschiff hinauf, und ein Seesoldat meldete mit heiserer Stimme:»Wir sind durch, Sir, hat er gerufen!»
Bolitho preßte die Hände zusammen, um seine Nerven zu beruhigen. Kein Schuß war gefallen, kein Mann verloren. Bei Tage, wenn die Hauptflotte ihren Vormarsch antrat, würde es anders sein.
«Drehen Sie die Sanduhr noch einmal um, Thomas. Danach können wir die Boote zurückrufen.»
Grubb sagte:»In zwei Stunden wird es hell, Sir. «Er rieb sich die roten Hände.»Ich bin ganz schön ausgedörrt nach diesem kleinen Ausflug.»
Herrick lachte.»Verstehe, Mr. Grubb. Sagen Sie dem Zahlmeister, daß er für jeden Mann eine doppelte Portion Rum ausschenken soll, und daß ich ihm das Fell über die Ohren ziehe, wenn er dagegen mek-kert.»
Bolitho fühlte, wie die Spannung sich rundherum legte, obwohl der Kampf noch vor ihnen lag. Die Benbow war durchgebrochen, und das verstand jeder Mann. Wie Allday gesagt hatte: Jeder kämpfte für jeden, aber nicht für einen Plan von höchster Stelle.
Das Halbstundenglas neben dem Kompaß kippte wieder um, und Grubb sagte:»Es ist soweit, Sir.»
Herrick rief:»Sagen Sie dem Kutter zur Weitergabe an Indomitable: Wir rufen die Boote zurück.»
Bolitho konnte sich die Erleichterung in den Booten vorstellen, als der Befehl durch die Linie lief. Von dieser Nacht würden viele Blasen in den Händen und schmerzende Rücken zurückbleiben.
Jemand drückte ihm einen Becher in die Hand, und er hörte Browne sagten:»Erschrecken Sie nicht, Sir, es ist Brandy und kein Rum. Ich weiß, daß Sie den nicht mögen. «Bolitho wollte gerade antworten, als er spürte, daß etwas Schnaps
über seine Finger spritzte. Browne zitterte also.»Was ist los?»
Browne blickte in Richtung der verborgenen Küste.»Sie fragen noch, Sir?«Er versuchte, es wegzulachen.»Ich bin zwar gut in Fragen des Protokolls und im Verkehr mit der hohen Admiralität. Ich kann mit Säbel oder Pistole besser umgehen als mancher andere und stehe auch am Spieltisch meinen Mann. «Er schüttelte sich.»Aber dieses schreckliche, lang hingezogene Schleichen in den Rachen der Hölle geht mir auf die Nerven, Sir.»