Herrick sprang auf.»Was ist, Mann?»
Browne kam mit langen Schritten durch die Kajüte und ergriff All-days Arm.»Nun reden Sie schon, um Gottes willen!»
Allday sagte mit schwacher Stimme:»Ich könnte ein Glas Schnaps vertragen, Sir.»
Er wirkte wie betäubt, als ob er nur halb mitbekäme, was um ihn herum vorging. Die drei Männer standen eng beieinander und folgten den Schiffsbewegungen, als die Benbow wieder in ein tiefes Wellental sackte. Jeder von ihnen war mit seinen Gedanken beschäftigt.
«Erzählen Sie!«Herrick ging rückwärts durch die Kajüte, als würde alles zunichte, wenn er die Augen von Allday abwandte, und tastete nach einer Flasche und Gläsern.
Allday nahm den Brandy und schluckte ihn nahezu geistesabwesend hinunter.
Herrick sagte vorsichtig:»Ich dachte, der Doktor hätte Sie aufgefordert, den Raum zu verlassen?»
«Sie wissen, daß ich das nicht konnte, Sir. «Allday hielt das Glas zu neuer Füllung hin.»Aber es war nicht leicht. All das Blut. Sogar der alte Loveys. «Er schüttelte sich.»Bei allem Respekt, Sir, aber auch ihn hat's fast umgehauen.»
Herrick hörte ihm gebannt und gleichzeitig erleichtert zu.
Allday fuhr fort:»Der Doktor sagt, wenn er nicht aus der Koje gefallen wäre, hätte er das Bein verloren. So aber ist die Wunde aufgebrochen, und Mr. Loveys fand mit seiner Pinzette noch einen Metallsplitter und einige Stoffetzen.»
Herrick ließ sich in einen Stuhl fallen.»Gott sei Dank!«Bis zu diesem Augenblick hatte er geglaubt, Bolitho lebe zwar, habe aber sein Bein eingebüßt.
Allday schaute sich immer noch benommen in der Kajüte um.»Ich. Tut mir leid, Sir, ich hätte hier nicht so hereinplatzen sollen, ohne Sie um Erlaubnis zu fragen.»
Herrick übergab ihm die Flasche.»Nehmen Sie die mit in Ihr Quartier, und trinken Sie den Rest aus. Sie haben es verdient.»
Allday nickte und ging langsam zur Tür. Doch er drehte sich noch einmal um und murmelte:»Er hat plötzlich die Augen aufgemacht, Sir. «Wie zur Bekräftigung rieb er sich das Kinn.»Und wissen Sie, was er als erstes zu mir sagte?»
Herrick antwortete nicht, als er die Tränen sah, die über Alldays stoppelige Backen liefen.
>»Du hast dich heute nicht rasiert, du Lümmel!< Das hat er gesagt,
Sir.»
Browne schloß vorsichtig die Tür, die Allday in Gedanken offengelassen hatte, setzte sich wieder und schaute zu Boden.»Jetzt verstehe ich Sie, Sir.»
Als Herrick nicht antwortete, bemerkte er, daß der Kapitän in seinem Stuhl eingeschlafen war.
Sehr vorsichtig verließ Browne die Kajüte und ging zum Niedergang. Dort stieß er fast mit dem Schiffsarzt zusammen, der einen Augenblick abwartete, in dem das Schiff wieder auf ebenem Kiel lag. Browne bemerkte Loveys Hände, die aussahen, als trüge er rote Handschuhe.
Er sagte:»Kommen Sie mit in die Messe. Ich mache eine Flasche auf. Die haben Sie mehr als verdient!»
Loveys betrachtete ihn mißtrauisch.»Ich bin kein Zauberer, wie Sie wissen. Konteradmiral Bolitho kann noch einen Rückfall bekommen, und selbst wenn alles gutgeht, wird er bis an sein Lebensende leicht humpeln und Schmerzen haben. «Völlig unerwartet lächelte er, und dabei war besonders deutlich zu erkennen, wie erschöpft er war.»Glauben Sie mir, Mr. Browne, ich bin selber überrascht.»
Herrick kam aus seinem Stuhl hoch und ertastete sich den Weg aus der Kajüte. Seine Erschöpfung war ein guter Grund dafür gewesen, daß er eingeschlafen war. Wenn er sich noch länger mit Browne unterhalten hätte, wäre es ihm — genau wie Allday — unmöglich gewesen, seine Gefühle zu verbergen.
Er tapste hinauf aufs Achterdeck, wobei seine Augen in der Dunkelheit doch noch die schemenhaften Kanonen erkennen konnten, während die Finknetze sich klar wie Schattenrisse gegen den Abendhimmel abzeichneten.
Der Steuermannsmaat der Wache stand beim Aufgang zur Hütte, einer der Midshipmen schrieb etwas auf seine Tafel, die er dazu ans Kompaßlicht hielt. Das Schiff ächzte und quietschte bei seiner heftigen Dümpelei vor der Ankertrosse. Die Decks glänzten naß vom Regen, und die Luft war eiskalt. An der entgegengesetzten Ecke des Achterdecks entdeckte Herrick den wachhabenden Offizier. Er rief:»Mr. Pascoe!»
Pascoe eilte herbei, seine Schritte waren auf dem nassen Deck kaum zu hören. Er blieb vor seinem Kommandanten stehen und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen.»Sie haben mich gerufen, Sir?»
«Es ist vorüber, Adam. Er wird überleben, und zwar mit beiden Beinen!«Herrick wandte sich ab und sagte nur noch im Gehen:»Ich bin in meiner Kajüte, wenn etwas sein sollte.»
«Aye, aye, Sir!«Pascoe wartete, bis er verschwunden war, und schlug dann glücklich die Hände zusammen.
Der Midshipman fragte ängstlich:»Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?»
Pascoe mußte seine Freude teilen, jemandem berichten.»Nicht mehr. Ich habe mich nie besser gefühlt.»
Er stakste davon und ließ den Midshipman so ratlos stehen wie zuvor. Auch dieser machte sich selbstverständlich Sorgen um den Admi-ral. Aber im Leben eines Midshipman gab es viele Dinge, über die er sich Sorgen machen konnte. Diese Rechenaufgabe zum Beispiel. Der alte Grubb wollte sie noch vor Tagesanbruch haben. Da gab es keinerlei Entschuldigung.
Die Tafel zitterte, als der Junge sich an den schrecklichen, aber großartigen Augenblick erinnerte. An den Konteradmiral, der seinen Hut schwenkte und die Kanonen des Feindes mißachtete. An die jubelnden oder sterbenden Männer. Und er, Midshipman Edward Graham aus der Grafschaft Hampshire, hatte überlebt.
Der dreizehn Jahre alte Midshipman konnte nicht wissen, daß Richard Bolitho fast genau dasselbe dachte.
X Traumgebilde
Nach einer der stürmischsten Überfahrten, an die Bolitho sich erinnern konnte, hatte die Benbow schließlich in Spithead geankert. Fast drei Monate waren sie fort gewesen, eine kurze Zeit nur für einen erfahrenen Seeoffizier, doch Bolitho hatte nicht erwartet, daß sie Spithead oder einen anderen heimatlichen Hafen jemals wiedersehen würden.
Die schmutzig gelben Wellenkämme schienen ihm beinahe schön, und die klamme Luft in der Kajüte war ihm nicht länger lästig. Bo-litho trat vorsichtig von den Heckfenstern zurück; obwohl er sich bemühte, sein verwundetes Bein nicht zu belasten, hätte er vor Schmerz fast aufgeschrien. Jeden Tag hatte er sich gezwungen, von Allday und Ozzard gestützt, ein paar Schritte zu gehen.
Stolz oder Zorn — er war sich noch nicht sicher, was von beiden überwog — hatte ihn auf den Weg der Genesung getrieben. Er hegte den Verdacht, daß Kommodore Rice vom Downs-Geschwader vielleicht ungewollt einiges damit zu tun gehabt hatte.
Herrick hatte darum gebeten, daß Rice das Kommando über die vereinten Geschwader übernahm, während er selber die Benbow zur Inspektion und Reparatur ins Dock brachte. Rice hatte Herrick zunächst abgewiesen, weil er wohl darauf aus war, baldmöglichst auf seine eigene, weniger schwierige Station zurückzukehren. Es konnte aber auch sein, daß er Bolitho schon abgeschrieben hatte und Herrick für zu jung hielt, um ihm Anweisungen zu geben. Was es auch gewesen sein mochte: Bolitho hatte nach Yovell gerufen und ihm eine kurze Anweisung für den Kommodore diktiert. Rice sollte danach bis auf weiteres das Kommando über das vereinte Geschwader übernehmen. Wenn Ropars' oder andere feindliche Schiffe den Versuch machen sollten, in die Ostsee einzudringen, würden sie auf eine sehr viel stärkere Streitmacht als bisher stoßen und ein weit größeres Risiko eingehen.
Herrick klopfte an die Tür und trat ein.»Wir haben geankert, Sir. «Er schaute Bolitho prüfend an und fügte hinzu:»Sie sollten sich schonen.»
«Wollen Sie mich vielleicht im Bootsmannsstuhl in mein Boot ab-fieren, Thomas? Wie den Arzt, den wir einmal hatten, oder wie ein Stück überzähliger Ladung?«Er zuckte zusammen, als das Deck sich plötzlich seitwärts neigte.»Aber ich werde vorsichtig sein.»