Wie viele Male hatte es Bolitho in dieser Zeit gereizt, schnell einmal von Falmouth herüberzukommen, um Herrick bei den letzten Arbeiten zuzuschauen. Aber Herrick hätte das vielleicht als einen Mangel an Vertrauen gedeutet. Mehr als einmal hatte Bolitho jetzt schon zur Kenntnis nehmen müssen, daß das einzelne Schiff ihn direkt nichts mehr anging. Er schwebte darüber wie seine Flagge. Ein freudiger Schauer lief ihm über den Rücken, als er die übrigen Einheiten seines Geschwaders musterte; vier Linienschiffe, zwei Fregatten und eine Korvette. Ingesamt fast dreitausend Offiziere, Seeleute und Soldaten, und alles, was darin inbegriffen war.
Das Geschwader mochte neu sein, aber von den Gesichtern waren ihm viele altvertraut. Er dachte an Keverne und Inch, an Neale und Keen, und an den jungen Kommandanten der Korvette, Matthew Veitch. Er war Herricks Erster Offizier gewesen. Admiral Sir George Beauchamp hatte sein Versprechen gehalten. Jetzt war es an ihm, sich zu bewähren.
Mit Männern, die er kannte und denen er vertraute, mit denen er so viel erlebt und geteilt hatte.
Trotz der augenblicklichen Erregung lächelte er bei dem Gedanken an die Reaktion seines neuen Flaggleutnants, als er versucht hatte, ihm seine Gefühle deutlich zu machen.
Der Leutnant hatte gesagt:»Aus Ihrem Mund klingt es sehr bedeutend. Wie schon der Dichter sagt: >Wir Auserwählten<.»
Vielleicht war er damit der Wahrheit näher gewesen, als er ahnte.
Das Admiralsboot drehte auf, fiel in ein Wellental hinab und wurde wieder hochgehoben, als der Leutnant auf die glitzernde Bordwand des Flaggschiffs zuhielt.
Dann waren sie längsseits. Rote Uniformröcke und weiße Kreuzbänder, das Blau und Weiß der Offiziersröcke, die Menge der Seeleute dahinter. Und über ihnen, wie um sie zu beschützen und einzuhüllen, die drei großen Masten und die Rahen, die Masse der Wanten, Stage und des laufenden Guts, ein unfaßbares Gewirr für jede Landratte, aber Bürge der Geschwindigkeit und Beweglichkeit eines Schiffes. Mit der Benbow war jedenfalls zu rechnen.
Die Riemen federten wie auf einen Schlag in die Senkrechte, und der Bugmann hakte in die Kette des Rüsteisens ein.
Bolitho übergab Allday seinen Mantel und drückte den Hut fest in die Stirn.
Alles ging ganz ruhig vonstatten; abgesehen von dem Tidenstrom zwischen dem Schiff und dem dümpelnden Boot wirkte die Szene fast friedlich.
Auch Allday war aufgestanden und hatte seinen Hut abgenommen. Nun stand er wartend da, bereit Bolitho zu helfen, wenn er den Absprung aufs Fallreep verpassen sollte.
Bolitho faßte Fuß und zog sich zur Einlaßpforte hoch.
In diesem Augenblick nahm er laute Befehle war, die Geräusche präsentierter Waffen und den Einsatz der Spielleute, die das >Heart of Oak< intonierten.
Wie durch einen Schleier sah er Gesichter, die auftauchten und sich näherten, als er das Deck betrat. Und während die Bootsmannsmaatenpfeifen und die Kommandorufe verstummten, nahm Bolitho seinen Hut ab und salutierte nach achtern, zur Flagge hin, und dann vor dem Kommandanten des Schiffes, als er auf ihn zuschritt, um ihn zu begrüßen.
Herrick nahm ebenfalls seinen Hut ab und schluckte heftig.»Willkommen an Bord, Sir!»
Beide schauten nach oben, als die Flaggleine vom Signalgasten straff geholt wurde.
Da war es, Symbol und Aussage: Bolithos eigene Flagge wehte nun vom Besanmast wie ein Banner.
Die Nächststehenden hätten gern ein besonderes Zeichen gesehen, als der jungendliche Admiral seinen Hut wieder aufsetzte und ihrem Kommandanten die Hand reichte.
Aber das war alles, was sie zu sehen bekamen. Denn was Bolitho und Herrick in diesem Augenblick miteinander verband, war für jeden anderen unsichtbar.
II Das Flaggschiff
Bei Anbruch des nächsten Tages hatte der Wind abermals beträchtlich zugenommen, und der Solent war wieder mit zornigen Wellenkämmen bedeckt. An Bord des Flaggschiffes, wie auch auf den übrigen Schiffen von Bolithos kleinem Geschwader, war es recht ungemütlich, denn die Fahrzeuge dümpelten stark und zerrten an ihren Ankertrossen, als wären sie entschlossen, auf Grund zu treiben.
Als das erste schwache Licht den glitzernden Schiffsleibern Farbe verlieh, saß Bolitho in seinem Arbeitsraum im Heck der Benbow und las noch einmal seine sorgfältig formulierten Instruktionen durch. Gleichzeitig versuchte er, die Gedanken von den bei Tagesanbruch an Deck üblichen Geräuschen loszureißen. Er wußte, daß Herrick seit Beginn der Dämmerung oben war und daß es die Vorbereitungen zum Ankerlichten auf der Benbow und den anderen Schiffen nur durcheinandergebracht hätte, wenn er hinaufgegangen und sich zu ihnen gesellt hätte.
Die Lage konnte sich jeden Augenblick verschlechtern. Der Krieg hatte schlimme Lücken unter Schiffen, Material und erfahrenen Leuten hinterlassen. Am meisten aber fehlte es an geübten Mannschaften. Auf einem neuen Schiff, in einem neugebildeten Geschwader, war dieser Mangel für Bolithos Kommandanten und Offiziere besonders schlimm.
Bolitho mußte einfach an Deck gehen. Um einen klaren Kopf zu bekommen, um das Fluidum seiner Schiffe zu spüren, um ein Teil des Ganzen zu sein.
Ozzard schaute nach ihm und glitt leise über den mit schwarz-weiß gewürfeltem Segeltuch bespannten Fußboden, um ihm Kaffee nachzu-schenken.
Bolitho wußte noch immer nicht viel mehr über seinen Diener als damals, da er ihn auf Herricks Lysander kennengelernt hatte. Selbst in seiner adretten blauen Jacke und der gestreiften Hose ähnelte er eher dem Sekretär eines Anwaltbüros als einem Seefahrer. Es hieß, er sei nur dadurch dem Galgen entronnen, daß er sich zur Flotte gemeldet hatte, aber hier hatte er sich durch Zuverlässigkeit und seine zurückhaltende Intelligenz vielfach bewährt.
Die andere Seite seiner Fähigkeiten war zutage getreten, als Bolitho ihn mit auf seinen Besitz in Falmouth genommen hatte. Die Fülle der Gesetze und Steuervorschriften war mit jedem Kriegsjahr komplizierter geworden, und Ferguson, Bolithos einarmiger Verwalter, hatte zugeben müssen, daß die Bücher nie besser in Ordnung gewesen waren, als nachdem Ozzard sich ihrer angenommen hatte.
Der Ehrenposten vor dem Kajütvorhang stieß seine Muskete kurz aufs Deck und meldete:»Ihr Schreiber, Sir!»
Ozzard flitzte zur Tür, um Bolithos Neuerwerbung, Daniel Yovell, einzulassen. Ein munterer Mann mit einem roten Gesicht und dem breiten Dialekt der Leute von Devon, ähnelte er mehr einem Bauern als einem Schiffsschreiber, aber seine Handschrift, rund wie der ganze Mann, war gut; außerdem war er unermüdlich gewesen, als Bolitho ihm seine Befehle bei der Übernahme des Geschwaders diktiert hatte.
Der Schreiber legte seine Papiere auf den Tisch und schaute unauffällig auf die beiden Heckfenster. Sie waren mit Wasserspritzern und angetrocknetem Salz bedeckt und ließen die anderen Schiffe wie Schemen erscheinen, unwirklich und verzerrt.
Bolitho blätterte in den Papieren. Schiffe und Männer, Kanonen und Pulver, Lebensmittel und sonstige Vorräte, die für Wochen, vielleicht für Monate reichen mußten.
Yovell sagte bedächtig:»Ihr Flaggleutnant ist an Bord gekommen, Sir, in der kleinen Jolle. «Er verbarg ein Grinsen.»Nun muß er sich erst etwas Trockenes anziehen, bevor er nach achtern kommt. «Das schien ihn zu amüsieren.
Bolitho lehnte sich im Stuhl zurück und starrte zu den Decksbalken auf. Es kostete viel Papier, ein Geschwader in Marsch zu bringen. Taljen knarrten auf dem Hüttendeck über ihm, und Blöcke quietschten im Gleichklang mit trampelnden Füßen. Verzweifelte Maate drohten und fluchten im Flüsterton, wohl wissend, daß das Oberlicht der Ad-miralskajüte offenstand.
Die andere Tür zur Kajüte öffnete sich lautlos, und Bolithos Flaggleutnant trat leichtfüßig über das Süll. Nur ein feuchter Schimmer auf seinem braunen Haar zeugte noch von seiner bewegten Überfahrt, ansonsten war er — wie stets — untadelig gekleidet.