Bolitho tat, als döse er — wie viele andere — vor sich hin, und ließ die Unterhaltung an seinem Ohr vorbeiplätschern. Es ging um landwirtschaftliche Fragen, um Preise, ausgebliebene Lieferungen und fehlende Arbeitskräfte. Das war ihr Anteil am Krieg, aber Bolitho so fremd, wie ihnen ein Batteriedeck an Bord gewesen wäre.
Er versuchte, an seinen kommenden Besuch bei der Admiralität zu denken. Wie lange würde Herrick für die Ausbesserung des Schiffes benötigen? Was machten inzwischen die Franzosen? Die Dänen? Die Russen?
Aber zwischen ihm und seinen Gedanken tauchte immer wieder Belindas Gesicht auf. Die Art, wie sie ihn angeschaut hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Wie sie vor seinen lächerlichen Hirngespinsten flüchtete. Inzwischen war sie wahrscheinlich längst in einem schönen Haus in London heimisch geworden und so von ihren neuen Aufgaben erfüllt, daß sie sich an ihn kaum noch erinnerte.
Browne ließ sich in dem Stuhl neben ihm nieder.»Ein tolles Essen, nicht wahr, Sir?»
«Berichten Sie mir von London. Wie war die Fahrt?»
«Passabel, Sir. Je näher wir London kamen, desto besser wurde die Straße. Wir machten natürlich mehrmals Pausen und hatten! Glück mit unseren Gasthöfen.»
Bei den Worten >wir< und >unseren< mußte Bolitho gegen auf- steigende Eifersucht ankämpfen.
Browne berichtete weiter:»Sir George war kurz angebunden wie immer, Sir. Ich glaube, Admiral Damerum hatte ihn besucht. Einiges, was Sir George sagte, überraschte mich.»
«Was hat er gesagt?»
«Nicht viel. «Browne wurde unter Bolithos forschenden Blicken etwas unruhig.»Aber in der Admiralität heißt es, der Zar behindere weiter unsere Handelsschiffahrt in der Ostsee. Ich glaube, die Schiffe, die Sie der französischen Fregatte abgejagt haben, werden die letzten gewesen sein, die herauskamen.»
Bolitho nickte.»Ich hatte gehofft, es käme anders, aber eigentlich fürchtete ich das immer. Dänemark wird keine Wahl haben. Und wir auch nicht.»
Browne griff mit langem Arm nach einem verlassenen Glas mit Brandy. Er zögerte einen Augenblick und kippte es dann entschlossen hinunter. Seine Augen verschleierten sich, als es ihn innerlich durchglühte. Dann fragte er sehr förmlich:»Darf ich offen sprechen, Sir?»
«Ich habe Ihnen schon oft gesagt. «Bolitho hielt inne, als er die Unsicherheit des Leutnants bemerkte.»Was es auch sei, erzählen Sie.»
«Ich habe nie viel mit dem aktiven Marinedienst im Sinn gehabt, Sir. Mein Vater bestand aber darauf, daß ich die Uniform anzog, und gebrauchte seinen Einfluß, damit ich ein Offizierspatent bekam. «Er lächelte trübe.»Ich wurde Kurier, ein Botenjunge, ein bevorzugter Zuschauer oder was mein Admiral sonst von mir verlangte. Erst seit ich Ihnen diene, und das ist ehrlich gemeint, Sir, bin ich manchmal ein wenig stolz auf mich. «Ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht.»Aber wenn da nicht eine gewisse Dame gewesen wäre, hätte ich Sir Georges Dienst kaum verlassen.»
Browne hatte seine Worte und den Brandy wie einen Schutzschild benutzt. Als er wieder sprach, hörte es sich an, als käme es von einem ganz anderen Menschen.
«Ich war über Ihre Ernennung beunruhigt, Sir, und noch mehr darüber, wie Admiral Damerum das Ostseegeschwader verließ, ohne Ihnen sämtliche Informationen zu geben, die seine Patrouillen gesammelt hatten. «Er schaute Bolitho an, als erwartete er, wegen Mißbrauchs ihrer jungen Freundschaft zum Schweigen gebracht zu werden.»Ihr verstorbener Bruder, Sir. «Er leckte sich verlegen die Lippen.»Ich weiß nicht, ob ich fortfahren soll?»
Bolitho blickte zu Boden. Da war es also wieder, noch immer nicht begraben, und würde es wohl auch niemals sein. Er sagte sehr ruhig:»Mein Bruder war ein Überläufer, ein Verräter, wenn Sie es genau wissen wollen. «Er sah, daß seine Worte trafen.»Er war ein hemmungsloser Spieler und besaß schon als Junge ein aufbrausendes Temperament. Er forderte einen Kameraden zum Duell, und der Offizier starb. Mein Bruder floh nach Amerika und stieg während der Revolution zum Kapitän eines Kaperschiffes auf. Nach dem Krieg kam er ums Leben, als er ein ausgebrochenes Pferd einfangen wollte. «Der letzte Teil war eine Lüge, aber er hatte sich so an sie gewöhnt, daß es nicht mehr darauf ankam. Er sah Browne ruhig an.»Ist es das, was Sie mir sagen wollten?»
Browne starrte in sein Glas, aber es war leer.
«Vielen Dank, Sir, daß Sie mich ins Vertrauen gezogen haben.»
Er heftete den Blick auf einen Punkt über Bolithos Schulter.
«Kannten Sie den Offizier, der getötet wurde?»
«Nein, zu der Zeit war ich in der Karibik. Als ich heimkam, erfuhr ich es von meinem Vater. Der Schock hat ihn fast umgebracht. «Etwas in Brownes Ton ließ Bolitho aufmerken.»Warum?»
«Sein Name war Damerum, Sir. Sir Samuels Bruder.»
Bolitho rief sich sein erstes Zusammentreffen mit dem Admiral an Bord seines Flaggschiffes Tantalus in Erinnerung: keine Andeutung, kein einziger Hinweis auf Vergangenes, auf eine gespannte Beziehung.
In den wenigen Minuten schien Browne ziemlich betrunken geworden zu sein.
In schleppendem, vertraulichem Ton murmelte er:»Und, äh, wenn Sie annehmen, daß er seine privaten Empfindungen niemals vor dienstliche Belange stellen würde, Sir, dann irren Sie.»
Bolitho stand auf.»Ich glaube, es wäre klug, wenn wir uns jetzt zurückzögen. «Er nickte Swinburne zu, aber der nahm kaum noch wahr, was um ihn herum vorging.
Als sie gemeinsam die Treppe hinaufgingen, schwankte Browne bei jedem Schritt.
Vor der Tür zu Bolithos Zimmer saß Allday auf einem zierlichen Stuhl, der aussah, als würde er jeden Augenblick unter ihm zusammenbrechen. Er bemerkte Browne und grinste.»Bißchen viel für einen kleinen Leutnant, wie, Sir?»
«Bringen Sie ihn ins Bett, Allday. «Bolitho strich sich den Rock glatt, als Allday einen Arm um Brownes Taille legte, gerade noch rechtzeitig, sonst wäre er vornübergefallen.»Ich gehe wieder hinunter in die Halle. «Er rang sich ein Lächeln für Allday ab.»Als einziger noch vorhandener Vertreter der Königlichen Marine kann ich die Gastgeber nicht enttäuschen.»
Allday stieß die Tür auf und schleppte die willenlose Gestalt zum Bett.»Soll er denn hier schlafen, Sir?»
Bolitho blickte zur Uhr.»Ja. Aber ich habe den Verdacht, daß er nicht lange alleinbleiben wird. Mag sein, daß bald eine junge Dame aufkreuzt. Also stehen Sie hier nicht im Wege.»
Allday starrte ihn an.»Sie denkt, es ist Ihr Schlafzimmer?»
Bolitho wandte sich zur Treppe.»Ich nehme an, daß es beiden ziemlich gleichgültig sein wird und daß sie sich morgen früh an nichts mehr erinnern. Dessen bin ich mir sogar ziemlich sicher.»
Allday sah Bolitho nach, bis dieser auf der Treppe verschwunden war, und seufzte neidvoll. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Leutnant in einen anderen Raum zu tragen und sich selber in das Bett zu legen. Dann aber dachte er an das niedliche Dienstmädchen, das am anderen Ende des Hauses auf ihn wartete. Er verbeugte sich zur Tür hin und sagte:»Schlafen Sie wohl, Mr. Browne mit >e< am Schluß. Sie sind ein Glückspilz, auch wenn Sie es selber nicht merken.»