Bolitho sah, daß eine Kanone umgestürzt war, daß ihre Bedienung sich auf dem Deck wälzte und scharlachrote Spuren als Zeichen ihres Todeskampfes hinterließ. Auch in den Segeln der Styx erschienen jetzt Löcher, und Bolitho hörte eine Kugel über das Achterdeck fegen, nur wenige Fußbreit von dem Platz entfernt, an dem er stand.
Neale eilte hierhin und dorthin, beobachtete das Steuer, die Segel, die Geschützbedienungen, alles.
«Feuern!»
Mit wildem Kampfgeschrei warfen sich die Männer wieder an ihre Kanonen und schenkten sich vor dem Nachladen kaum einen Atemzug Zeit, um nachzuschauen, wo ihr Schuß eingeschlagen war.
Bolitho ging nach achtern und schlidderte dabei über Schneematsch, als er das Teleskop hob, um nachzuschauen, was das andere fremde Kriegsschiff machte. Es lag noch vor Anker. Seine Decks waren gedrängt voller Matrosen, jedoch wurden keine Segel losgemacht oder Kanonen ausgerannt. Als er sein Glas weiter nach achtern schwenkte, sah er die weiß-blaue Flagge Rußlands. Mochte der Zar sich auch sehnlichst wünschen, ein anerkannter Freund und Verbündeter Napoleons zu werden, sein Kapitän dachte darüber offenbar anders. Vielleicht hatte auch die Verblüffung über den kühnen Angriff der Styx dazu beigetragen.
Eine Kugel schlug durch die Finknetze hinter Bolitho. Er hörte einen vielstimmigen Aufschrei. Die Reihe der Marinesoldaten, die ihre geladenen Musketen auf dem Wall der Hängematten aufgelegt hatten und den Befehl zum Feuern erwartete, war in ein blutiges Durcheinander verwandelt. Männer taumelten und krochen durch den Qualm, zwei von ihnen lagen zu einer blutigen Masse zerschmettert auf der anderen Seite.
Ihr Sergeant brüllte:»Auf eure Plätze, Soldaten! Ziel aufgefaßt!»
Der Leutnant der Seesoldaten saß, sein Gesicht in den Händen, mit dem Rücken ans Schanzkleid gelehnt; seine Finger hatten die gleiche rote Farbe wie sein Uniformrock.
Neale rief:»Der Franzmann hat sich vom ersten Schrecken erholt, Sir. Er wird jetzt sicher mit Kettenkugeln schießen.»
Bolitho warf einen schnellen Blick in die Runde. Es waren erst zehn Minuten vergangen, aber ihm schien es wie eine Ewigkeit. Die Gruppe der britischen Frachter lag wie zuvor, doch konnte man kleine Gestalten erkennen, die auf den Rahen oder dem Oberdeck ihrem Kampf zusahen, ihnen zujubelten oder um Hilfe riefen — es ließ sich nicht ausmachen.
Neale folgte seinem Blick und schlug vor:»Ich werde ein Boot hinüberschicken, Sir. Die armen Teufel haben vielleicht keine Offiziere, die sie anleiten und ihnen beim Entkommen helfen.»
Bolitho nickte, und als Matrosen nach achtern eilten, um das Boot auszusetzen, sagte er zu Browne:»Fahren Sie mit?«Er klopfte ihm auf die Schulter und rechnete damit, daß sie so entspannt wäre, wie der ganze Mann wirkte. Doch die Schulter war gespannt wie eine Wagenfeder, darum setzte er beruhigend hinzu:»Kapitän Neale hat zu viel anderes um die Ohren.»
Browne biß sich auf die Unterlippe und zuckte zusammen, als weitere feindliche Geschosse in die Bordwand krachten, wobei sie schreckliche Splitter abschlugen. Einer drang einem Mann in den Arm und warf ihn zu Boden.
Dann sagte er:»Jawohl, Sir. «Er zwang sich zu einem Lächeln.»Ich werde einen wunderbaren Ausblick haben.»
Augenblicke später pullte das Boot mit kräftigen Schlägen den Handelsschiffen entgegen. Irgend jemand hatte sogar noch die Ge i-stesgegenwart gehabt, eine britische Flagge am Heck zu setzen.
Die Ajax kam näher, und ihre Stückpforten spien in regelmäßigen Abständen Feuer. Aber da der Wind das Schiff auf die andere Seite drückte, zischten viele Kugeln über Deck und Laufbrücken der Styx hinweg, holten dabei jedoch allerlei Tauwerk herunter und schnitten Blöcke ab wie faule Früchte.
Bolitho blickte das Batteriedeck entlang und entdeckte — wenn auch nur undeutlich im Gemisch von Pulverqualm und Schnee — die weißen Kniehosen von Pascoe, der die vorderen Geschütze kommandierte.
Die Breitseiten fielen jetzt unregelmäßiger. Die Männer waren vom Getöse der Schlacht zu benommen, um noch das ursprüngliche Tempo einhalten zu können.
Einige lagen tot oder schwer verwundet, andere versuchten, sie aus dem Bereich die zurückrollenden Kanonen wegzuziehen. In ihren Gesichtern mischten sich Entschlossenheit und Entsetzen.
Vom Vorschiff hörte man einen wilden Jubelschrei. Bolitho sah den Fockmast des Franzosen wie eine abgeschlagene Kautabakrolle zusammenklappen, wobei die oberen Rahen und Stengen mit sämtlichem Tauwerk und der wild flatternden Leinwand, dazu auch mit einigen Leuten, aufs Vorschiff stürzten. Es klang selbst durch den Schlachtenlärm, als stürze ein abgelöster Felsbrocken ins Meer. Die Wirkung trat augenblicklich ein: Da der größte Teil des Mastes über die Bordwand fiel und dabei Wanten und sonstiges Tauwerk wie schwarzen Seetang hinter sich herzog, drehte die Fregatte in den Wind, wobei das außenbord hängende Zeug als großer Treibanker wirkte.
Neale formte mit den Händen ein Sprachrohr, so daß sein Säbel am Handgelenk herunterbaumelte, und schrie:»Eine volle Breitseite, Mr. Pickthorn! Mit doppelter Kartätschenladung! Gebt's ihm!»
Hilflos hin- und herschwankend, während ihre Matrosen die übergegangenen Trümmer abzuschlagen versuchten, trieb die Ajax — Bug voran — direkt auf Neales Batterie zu. Jetzt gab es keine Bedenken mehr, daß eine doppelte Ladung die kalten Rohre sprengen könnte, dachte Bolitho. Die Kanonen waren inzwischen so heiß, daß sie die nächststehenden Leute wie offenes Herdfeuer wärmten.
Er beobachtete, wie ein älterer Geschützführer eine Kugel liebevoll in den Armen wiegte, bevor er zuließ, daß sie in das Rohr gesteckt wurde. Das mußte ein Treffer werden.
Neale kletterte in die Lee-Wanten, griff sich das Sprachrohr seines Ersten Offiziers und rief:»Streicht die Flagge! Ergebt euch!«Es klang fast flehentlich. Doch die einzige Antwort war eine Salve Musketenschüsse, von denen eine Kugel Neales Säbel traf und einen Ton wie Glockenschlag hervorrief.
Neale kletterte zurück an Deck. Seine Augen blickten traurig, als er die erhobenen Fäuste seiner Geschützführer sah.
«So sei es denn!«Er schaute seinen Ersten Offizier an und nickte ihm zu.
Der Erfolg der Breitseite, die — Kanone für Kanone — vom Bug bis zum Heck hinausdonnerte, war schrecklich anzusehen. Drüben flogen Trümmer hoch in die Luft, und der Großmast stürzte mit gewaltigem Krach über die Bordwand, dorthin, wo schon die anderen Mastteile trieben. Bolitho schien es, als wolle das Vorschiff des Gegners unter der gewaltigen Last abbrechen. Er sah einen Midshipman, der sich vor
Entsetzen in den Rockärmel biß, als er lange Rinnsale Blut aus den Speigatten der Ajax fließen sah, als stürbe sie und nicht ihre Besatzung.
Ein Steuermannsmaat rief:»Die Handelsschiffe gehen Anker auf, Sir!«Es hörte sich ungläubig an.
Bolitho nickte und beobachtete weiter die übel zugerichtete Fregatte. Sie war besiegt, aber ihr Flagge wehte immer noch, und er wußte aus bitterer Erfahrung, daß sie weiterkämpfen würde, so lange noch Leben in ihr war.
Er nahm an, daß Neale und viele seiner Leute die Ajax gern geentert und als Prise nach Hause gebracht hätten. Aber es reichte, und sie hatten bereits mehr geleistet, als er zu hoffen gewagt hatte. Jetzt noch weiterzukämpfen, hieß, die Autorität des schwedischen Festungskommandanten wie auch die extravagante Neutralitätsauffassung des russischen Kriegsschiffes allzusehr auf die Probe zu stellen.
Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit statt dessen auf die Frachter. Es waren sechs im ganzen, und ihre Matrosen waren eifrig dabei, mehr Segel zu setzen und Zusammenstöße untereinander zu vermeiden, als sie alle zur gleichen Zeit auf die Styx zuhielten, die — deutlich sichtbar — vier Flaggen führte.
Neale wischte sich das rußverschmierte Gesicht und sagte:»Ihr Flaggleutnant wird nicht mehr derselbe sein wie bisher, schätze ich, Sir. «Er seufzte, als ein Verwundeter an ihm vorbeigetragen wurde.»Wir anderen auch nicht, was das anbelangt.»