Aber die Linie wankte. Als Bolitho versuchte, sich zum anderen Ende der schwankenden Reihe seiner Matrosen durchzukämpfen, hörte er einen furchtbaren Schrei und sah Leutnant Lucey auf dem Bauch liegen, über sich einen riesigen Spanier mit erhobener Muskete. Im Schein der Laterne glänzte das Blut am Bajonett, ehe der Mann zum zweiten Mal mit aller Kraft zustieß — und obwohl der Soldat einen Fuß auf den Rücken des Leutnants stemmte, konnte er die Klinge nicht herausziehen.
Aber Lucey lebte noch, er schrie wie eine Frau in den Wehen.
«Um Gottes willen!«keuchte Allday und sprang über den schmalen Streifen Kies; ehe der Soldat wußte, was ihm geschah, schnitt ihm Alldays schwerer Entersäbel in blitzendem Bogen quer durchs Gesicht, und sein gurgelnder Schrei übertönte das Knirschen der Klinge auf Fleisch und Knochen.
Aber es hatte keinen Zweck mehr. Bolitho wischte sich die Augen mit dem Ärmel, schlug den Säbel eines Soldaten zur Seite, riß ihn mit herum und stieß ihm den Degen dicht unter der Achselhöhle in die Brust. Sein Degen kam ihm so schwer vor, daß er ihn kaum noch heben konnte; verzweifelt sah er, wie jenseits des Tores zwei bezopfte Matrosen die Hände hoben, um sich zu ergeben.
In diesen kurzen Sekunden stand ihm klar vor Augen, warum sie überhaupt hier waren: seines persönlichen Stolzes oder ganz einfach seiner Eitelkeit wegen. All diese Männer, die von ihm abhingen, waren tot oder schwer verwundet. Bestenfalls würden sie auf spanischen Galeeren elend zugrunde gehen oder in einem Gefängnis verfaulen.
Auch die spanischen Truppen hielten jetzt inne und zogen sich dann auf einen weiteren Kommandoruf zurück. Sie ließen die Toten und die zuckenden, sich windenden Blessierten in der Mitte des Hofes liegen und formierten sich zu den urprünglichen Linien, wobei sie noch Verstärkung aus der unteren Festung bekamen.
Erschöpft senkte Bolitho den Degen und musterte, was von seinen Leuten noch übrig war. Atemlos keuchend klammerten sie sich aneinander, um sich gegenseitig zu stützen, und warteten stumpf wie Verurteilte auf ihre Hinrichtung. Und eine Hinrichtung würde es werden, wenn er sich nicht sofort ergab.
Doch da hörte er wie aus einer anderen Welt einen heiseren Befehl:»Erstes Glied — nieder knien!«Im ersten Augenblick bildete er sich ein, da gäbe ein spanischer Offizier sein Kommando auf Englisch, um es noch schlimmer für sie zu machen.
«Ziel erfassen!«tönte es weiter. Der eigentlich Feuerbefehl ging im Krachen der Musketen unter, und Bolitho konnte nur auf die Reihen der spanischen Soldaten starren, die unter der tödlichen Salve taumelnd hinsanken.
Aber es war Giffards Stimme! Tausendmal hatte Bolitho sie auf dem Achterdeck beim Exerzieren und bei militärischem Zeremoniell gehört. Der dicke, bombastische, wichtigtuerische Giffard, der Mann, der nichts lieber tat, als seine Seesoldaten vorzuführen. So wie jetzt.
Seine Stimme schmetterte wie eine Trompete, und obwohl er hinter einem Torbogen stand, meinte Bolitho, ihn ganz deutlich vor Augen zu sehen.
«Marine — Infanterie zur — Attacke! Das Zentrum, Laufschritt marsch — marsch!»
Und dann war alles so schnell vorbei wie ein Alptraum. Die MarineInfanteristen standen in tadelloser Uniform, die Bajonette tödlich glitzernd im Laternenlicht, das Lederzeug kreideweiß gegen die schattenhafte Umgebung. Hinter ihnen folgte das zweite Glied, lud in präzisem Gleichmaß die abgeschossenen Musketen, und Boutwood, der Feldwebel, stampfte mit seiner Halbpike den Takt dazu.
Musketen klirrten aufs Kopfsteinpflaster, und fast dankbar drängten sich die Spanier auf den Stufen zusammen; aller Kampfgeist war von ihnen gewichen.
Giffard knallte die Hacken zusammen.»Abteilung — halt!«Dann machte er kehrt und hob mit einem Schwung, der König George selbst begeistert hätte, den Degen auf Nasenhöhe.
Es war auf einmal ganz still, und wiederum gruben sich Bolitho ein paar besondere Details ins Bewußtsein — wie Teile eines Teppichmusters: Giffards knarrende Stiefel. Sein nach Rum riechender Atem. Ein verwundeter Matrose, der ganz langsam, wie ein Vogel mit zerschossenen Flügeln, in den Lichtkreis der Laterne kroch.
«Bitte melden zu dürfen«, bellte Giffard,»Marine-Infanterie zur Stelle! Keine Verluste, alles planmäßig!«In sausendem Bogen senkte sich sein Degen.»Erbitte weitere Instruktionen, Sir!»
Sekundenlang sah Bolitho ihm in die Augen.»Danke, Hauptmann Giffard. Aber hätten Sie mit Ihrem Angriff nur noch ein bißchen länger gewartet, dann wäre Ihnen, fürchte ich, das Tor wieder vor der Nase zugeschlagen worden.»
Giffard wandte den Kopf nach seinem Leutnant, der die Übernahme der Gefangenen beaufsichtigte.»Hörte Detonationen, Sir. Sah Musketenfeuer auf Brustwehr und habe — äh — zwei und zwei zusammengezählt. «Es klang etwas beleidigt.»Konnte Sie das Fort doch nicht allein erobern lassen, ohne meine Marine-Infanterie, Sir. Waren schließlich den ganzen Tag da draußen in der blutiggottverdammten Sonne!»
«Was denn — Sie haben keinen Angriffsbefehl bekommen?»
Er schüttelte den Kopf.»Nichts. Hörten Musketenfeuer unten am Strand, aber da ist alles voll lausiger Marodeure. Mußte sogar heute nachmittag einen hängen lassen. Wurde lästig, wollte unsere Rationen klauen!»
«Aber Leutnant Calvert sollte doch zu Ihnen stoßen und Sie über unseren Angriff informieren.»
Giffard zuckte die Achseln.»In Hinterhalt geraten, wahrscheinlich.»
«Wahrscheinlich. «Bolitho versuchte, nicht an Calverts Angst zu denken.
Giffard musterte die erschöpften, keuchenden Matrosen.»Sie ha-ben's ja anscheinend auch ohne unsere Hilfe ganz gut geschafft, Sir. «Er grinste.»Aber wenn's wirklich ernst wird, sind richtige Disziplin und kalter Stahl das Allerbeste!»
Bolitho blickte zu den Mauern empor — fast jedes Fenster, jede Schießscharte war erleuchtet. Bis Sonnenaufgang gab es noch eine Menge zu erledigen. Er rieb sich die Augen und merkte dabei, daß er seinen Degen noch immer fest in der Hand hielt. Die Finger taten ihm richtig weh, als er die Klinge in die Scheide steckte. So weh, als könnten sie den Griff nie mehr loslassen.
«Sichern Sie die Gefangenen«, sagte er,»und lassen Sie die Verwundeten in die unteren Räume schaffen. Bei Sonnenaufgang kommen die Hekla und die Coquette in die Bucht, und bis dahin ist noch ungeheuer viel zu tun.»
Klirrend lief Bickford die Stufen hinunter und faßte an den Hut.»Kein Widerstand mehr, Sir. «Da sah er den toten Lucey, aus dessen Rücken immer noch das Bajonett ragte, als wäre er an den Erdboden genagelt.»Mein Gott!«flüsterte er mit bebenden Lippen.
«Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Mr. Bickford. «Langsam ging Bolitho zur Treppe, innerlich noch gespannt wie die Abzugsfeder einer Pistole.»Da Sie jetzt der einzige überlebende Leutnant sind…»
Bickford schüttelte den Kopf.»Nein, Sir. Mr. Sawle ist in Sicherheit. Ihre Kommandantengig hat ihn und Mr. Fittock aufgenommen.»
Bolitho wandte sich um und blickte auf den toten Lucey herab. Merkwürdig, daß in dieser Welt immer die Sawles überlebten, während andere. Er riß sich aus seinen Grübeleien und befahl kurz:»Kümmern Sie sich um die Verwundeten. Dann die Boote zurückrufen! Die ankernde Brigg sorgfältig bewachen, damit sie nicht in der Nacht entwischt!»
«Man hat sie vielleicht angebohrt, Sir.»
«Glaube ich nicht. Hier in Djafou? Das einzige Schiff, das sie haben?»
Irgend etwas hielt ihn immer noch hier, auf diesen blutbespritzten Stufen, und er sollte doch schon längst drinnen sein, in der Festung. Er mußte mit dem Garnisonkommandeur sprechen und zahllose andere Einzelheiten erledigen, ehe das Geschwader kam.
Giffard schien seine Gedanken zu lesen. Und das war ebenfalls merkwürdig, denn nie hatte Bolitho ihm irgendwelches Einfühlungsvermögen zugetraut.»Soll ich ein paar Mann losschicken und Leutnant Calvert suchen lassen, Sir?«Er wartete auf Antwort und wiegte sich in knarrenden Stiefeln.»Einen Halbzug hätte ich allenfalls für ein paar Stunden übrig.»