Wieder spürte Bolitho, wie ihm die unterdrückte Gemütsbewegung, die Anspannung den Atem verschlug. Die Hekla war da! Irgendwie hatte es Inch geschafft, ohne Eskorte, sogar ohne das andere Werferschiff, zum Geschwader zu stoßen!
Ohne eine weitere Äußerung des Admirals abzuwarten, sagte er:»Signal: >Kommandant sofort an Bord!<»
Erst dann wandte er sich an den Admiral, und seine Augen waren wieder ganz ruhig.»Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, möchte ich jetzt versuchen, unsere Mission auszuführen. «Er hielt inne, denn er sah, wie Broughton die Röte in die Wangen stieg.»Außer Sie ziehen es immer noch vor, sich mit Piraten zu verbünden?»
Mit offensichtlicher Anstrengung schluckte Broughton und erwiderte:»Kommen Sie mit dem Kommandanten der Hekla zu mir, sobald er an Bord ist. «Damit wandte er sich ab und schritt steif zur Kampanje.
Bolitho blickte auf seine Hände. Sie zitterten, sahen aber sonst ganz normal aus — einen Moment hatte er gedacht, sein altes Fieber bräche wieder aus, denn ihm war, als bebe er am ganzen Körper.
Doch es war nicht das Fieber. Es war etwas viel Stärkeres.
Keverne kam von der anderen Seite zu ihm und faßte grüßend an den Hut.»Komischer Kahn, Sir!«Unter Bolithos starrem Blick zuckte er zusammen.»Der Werfer, meine ich.»
Nun lächelte Bolitho; die Spannung lief ab wie Blut.
«Gerade jetzt der willkommenste Anblick, den ich seit langer, langer Zeit gehabt habe, Mr. Keverne. «Er zupfte an seinem durchgeschwitzten Hemd und schloß:»Ich gehe nach unten und ziehe mich um. Rufen Sie mich, sobald das Boot der Hekla heran ist. Ich möchte ihren Kommandanten persönlich begrüßen. «Damit ging er.
«Wissen Sie«, sagte Keverne versonnen,»ich glaube, ich werde unseren Kommandanten nie verstehen.»
Weigall an der Reling fuhr herum.»Was haben Sie gesagt?»
«Nichts. «Keverne ging auf die andere Seite.»Träumen Sie weiter, Mr. Weigall.»
Er blickte zum Fockmast hoch, wo Broughtons Flagge baumelte, und dachte über den Stimmungswechsel Bolithos nach. Aber anscheinend war das Warten vorbei — wenigstens etwas.
Nach der Ofenhitze des Tages war die Nachtluft beinahe eisig. Bo-litho stand am Bug der Kommandantengig und gab Allday ein Handzeichen.
«Auf Riemen!«blaffte Allday. Mit einem Schlag hoben sich die Riemen tropfend aus dem Wasser, und das Gurgeln der schwindenden Bugwelle klang auf einmal sehr laut in der tiefen Stille.
Bolitho wandte sich um und spähte angestrengt nach achtern. Sie kamen auf; am Bug der beiden vordersten Boote schimmerte phosphoreszierendes Seegras. Hier und da fiel es wie weiße Federn von einem der umwickelten Riemen.
Da kam das erste Boot. Hände streckten sich vor, um ein geräuschvolles Aneinanderstoßen zu verhindern. Es war Leutnant Bickford. Er sprach dienstlich und so normal, als melde er seine Division zur Musterung.»Die anderen sind dichtauf, Sir. Wie weit ist es noch, Ihrer Ansicht nach?»
Die beiden Boote dümpelten in der Brandung, und Bolitho fragte sich, wie weit das Geschwader gekommen sein mochte, als der Wind schließlich zu einer schwachen Brise abgeflaut war. Den ganzen Tag über, während der Vorbereitungen für seinen Angriffsplan, hatte er darauf gewartet, daß der Wind einschlief; es war so etwas wie ein unerklärlicher Instinkt gewesen. Hätte es abgeflaut, bevor er fertig war, dann hätte der Plan verschoben, vielleicht sogar aufgegeben werden müssen.
«Noch ungefähr drei Kabellängen, glaube ich«, erwiderte er.»Jetzt geht's weiter, Mr. Bickford, also passen Sie gut auf.»
Ein neues Kommando, die Boote drifteten auseinander; und als die Riemen wieder arbeiteten, setzte sich Bolitho auf die Ducht und spähte nach Steuerbord voraus, wo der westliche Arm der Bucht zuerst in Sicht kommen würde, vorausgesetzt, daß er die Abdrift richtig beurteilt hatte.
Er zwang sich, den hektischen Nachmittag nochmals zu überdenken, um eine schwache Stelle in seinem kühnen Plan zu entdecken. Jede s-mal hatte er Inchs Gesicht wieder vor Augen, hörte er seine Stimme in der Heckkajüte der Euryalus: eine Stimme, so müde und ausgelaugt wie die eines alten Mannes, nicht die des sechsundzwanzigjährigen Inch.
Es fiel ihm schwer, sich Inch so vorzustellen, wie er einst als Erster Offizier gewesen war, diensteifrig, aber subaltern, loyal, aber unerfahren; und noch schwerer fiel ihm das, wenn er sich vergegenwärtigte, was Inch jetzt für ihn getan hatte.
Ungeduldig hatte Inch in Gibraltar auf die Eskorte gewartet; er wußte genau, wie verzweifelt sie benötigt wurden. Doch schließlich war ihm klargeworden, daß er seine Eskorte nie bekommen würde. Da hatte er allen Mut zusammengenommen und war beim zuständigen Admiral um Erlaubnis vorstellig geworden, allein loszusegeln. Typischerweise hatte ihm der Admiral diese Erlaubnis unter der schriftlich festgehaltenen Bedingung erteilt, daß das Ganze unter Inchs eigener
Verantwortung lief. Das zweite Werferschiff, die Devastation, hatte ebenfalls Anker gelichtet. Beide waren sie aus dem Schutz des Felsens von Gibraltar gesegelt; beide Kommandanten hatten ständig damit gerechnet, von patrouillierenden spanischen Fregatten angegriffen zu werden.
Als Inch seine Geschichte erzählte, hatte Bolitho daran denken müssen, was er selbst über dessen Glück gesagt hatte. Auch jetzt hatte Inch wieder Glück gehabt, denn kein einziges Schiff war in Sicht gekommen. Bis heute früh, als Inchs Ausguck eine schnell aus einer Nebelbank heraussegelnde spanische Fregatte gemeldet hatte. Bolitho zweifelte kaum daran, daß es dieselbe war, die schon die Coquette gesichtet hatte, und die höchstwahrscheinlich mit größter Eile die Nachricht von Broughtons Angriff auf Djafou nach Spanien brachte. Vielleicht hatte der Kommandant gedacht, die beiden sonderbaren kleinen Schiffe gehörten zu einem Verband, der ihn abfangen sollte. Sonst hätte er sie kaum angegriffen.
Inch hatte gefechtsklar gemacht und seine paar Mann auf Stationen befohlen. Der andere Werfer stand etwa eine halbe Meile vor ihm.
Unter Vollzeug hatte die Zweiunddreißiger-Fregatte gewendet, um den Windvorteil zu bekommen; gleich ihre erste Breitseite hatte die Devastation entmastet und eine Salve Schrapnell und Kettenkugeln über ihr Deck gefegt. Aber der kleine Werfer war kräftig gebaut, und seine Geschütze hatten ebenso energisch geantwortet. Inch hatte gesehen, wie mehrere Kugeln in den Rumpf des Feindes dicht an der Wasserlinie einschlugen. Doch eine zweite wütende Breitseite hatte die Devastation endgültig zum Schweigen gebracht.
Inch hatte für sein Schiff das gleiche erwartet; doch hatte er seine Hekla zwischen die Fregatte und den anderen Werfer manövriert und das Feuer eröffnet. Vielleicht hatte der spanische Kommandant damit gerechnet, Inch würde abdrehen und fliehen, nachdem er gesehen hatte, wie es seinem Begleitschiff ergangen war; oder vielleicht rechnete er auch damit, die Bramsegel der Coquette in voller Fahrt über der Kimm auftauchen zu sehen. Er hatte jedenfalls genug gehabt und abgedreht. Inch konnte Boote zu Wasser lassen und die Überlebenden des Schwesterschiffes, das gekentert war und sank, an Bord nehmen.
Es war Bolitho klar, daß Inch zwischen zwei höchst realen Gefühlen hin- und hergerissen war. Der Verlust der Devastation und des größten Teils ihrer Mannschaft bekümmerte ihn tief; hätte er nicht so gedrängt, läge sie immer noch unbeschädigt in Gibraltar vor Anker.
Doch als Bolitho skizzierte, was er in dieser Nacht vorhatte, da hatte er auch wieder etwas vom alten Inch gesehen: nämlich — als seine Haupteigenschaften, die er so sehr zu schätzengelernt hatte — bedingungsloses Vertrauen und Stolz.
Jetzt ankerte Inch mit der Hekla, seinem ersten selbständigen Kommando, hinter der gegenüberliegenden Landzunge, und sehr bald würde er etwas in der bisherigen Marinegeschichte völlig Neues probieren: den indirekten Beschuß. Mit Bolitho und seinem eigenen Stückmeister war er an der äußersten Spitze des schnabelförmigen Vorsprungs an Land gegangen, wo die Marine-Infanteristen in der glühenden Sonne wie tot herumlagen, und hatte eine sorgfältige Lageskizze der Festung aufgenommen. Bolitho hatte keinen Ton gesagt, um Inchs Konzentration nicht zu stören; er hatte mit höchstem Interesse zugesehen, wie gekonnt Inch dabei zu Werke ging. Entfernungen, Schußwinkel, Höhen wurden eingetragen; der Stückmeister hatte allerlei von Ladung, Pulvermengen und Zündung gemurmelt — zum Teil war es für Bolitho wie eine Fremdsprache gewesen.