Das Land hatte andere Farben bekommen, während die Sonne sich höher über ihr Spiegelbild im Wasser hob: das Purpurrot war zu einem matten Grünbraun geworden, die grauen Klippen und Schluchten zeichneten sich deutlich ab, wie auf einem Holzstich in der Gazette.[28] Aber im großen und ganzen hatte sich der erste Eindruck nicht verändert: baumlos, ohne ein Zeichen von Leben, die Luft bereits flirrend vor Hitze oder vielleicht auch vor Staub, den der stetige Landwind aufwirbelte. Der westliche Arm der Bucht wurde von dem anderen, schnabelförmigen, noch im tiefen Schatten liegenden Arm überschnitten. Genau voraus lag ein runder Hügel, dessen Vorderseite durch einen Erdrutsch ins Meer gestürzt war. Die Entfernung betrug etwa vier Meilen, doch konnte Bolitho sehen, wie die See in weißen Federn auf dem steinigen Strand auflief und sich einen kleinen Priel an diesem trübseligen Küstenstrich suchte.
Die Zeus würde jetzt in Höhe der nächstgelegenen Landzunge sein und bei dieser klaren Luft gute Sicht auf das Fort haben. Rattray würde sich inzwischen schon selbst ein Bild davon machen können, was ihn in den nächsten Stunden erwartete.
«Die Zeus soll anfangen, die Marine-Infanterie zu landen!«befahl Broughton. Dabei sah er Calvert an.»Kümmern Sie sich um das Signal und versuchen Sie, sich wenigstens ein bißchen nützlich zu ma-
chen!»
Und etwas ruhiger zu Bolitho:»Sobald Rattrays Boote weg sind, signalisieren Sie: >Geschwader in Linie halsen!< Wir haben dann den äußeren Verteidigungsgürtel gesehen und können den Angriff kalkulieren.»
Bolitho nickte. Das klang vernünftig. Halsen und auf Gegenkurs zurücksegeln war weniger gefährlich, als jetzt gleich anzugreifen, da sie Schiff um Schiff die Öffnung der Bucht kreuzen mußten. Wenn sie beim ersten Blick auf das Fort merkten, daß die Pläne und die flüchtigen Notizen nicht stimmten, dann würden sie immer noch Zeit haben, von der Küste freizukommen. Aufjeden Fall konnte Rattray, wenn die Zeus gehalst hatte und wieder Führungsschiff war, hoffentlich ein wachsames Auge auf Land und Wind haben. Wenn der Wind plötzlich auffrischte oder ausschoß,[29] dann würden sie allesamt reichlich zu tun haben, um von den Felsen klarzukommen, und kaum Zeit finden, sich auf ein Artillerieduell einzulassen. Er beobachtete, wie die Signalflaggen zur Rah aufstiegen und sich im Winde entfalteten; Sekunden später sah er, wie es daraufhin an Deck der Zeus lebendig wurde und sich immer mehr Leinwand an den Rahen bauschte.
Bis jetzt hatte jeder Kommandant genau nach Broughtons Plan gehandelt. Rattray würde vielleicht eine Stunde brauchen, bis alle seine Boote weg waren, und inzwischen konnten die anderen Schiffe vor der Bucht auf ihren Positionen bleiben.
Bolitho sah nach oben, denn von dort kam der Ruf:»Da ist die Coquette, Sir! In Luv, zwei Strich achterlicher als dwars!»
Bolitho zupfte an seinem Hemd. Es war schon ganz naßgeschwitzt, und in Kürze würde es noch erheblich heißer sein. Er mußte trotz seiner trüben Gedanken lächeln: heißer in mehr als einer Hinsicht.
Partridge hatte das flüchtige Lächeln bemerkt. Er stieß den Leutnant in die Seite und flüsterte:»Sehen Sie das? Der Alte ist so kühl wie'n Zofenkuß!»
Leutnant Lucey, normalerweise ein munterer, etwas leichtsinniger junger Mann, hatte Angst vor dem Morgenrot gehabt und vor dem, was es ihm bringen mochte. Als er sah, wie der Kommandant vor sich hin lächelte, wurde ihm ein bißchen besser.
Da waren sie auch schon in Höhe der ersten Landzunge. Nach der langen und langsamen Anfahrt schienen alle überrascht zu sein, daß sie schon da waren. Als sie die Landspitze achteraus hatten, sah er das mächtige Fort blaugrau in der Morgensonne liegen und fühlte sich sonderbar erleichtert: es war genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Ein massiver, kreisrunder Bau, innen ein kleinerer Turm mit einem Fahnenmast, der in der Sonne weiß glänzte. Aber es wehte noch keine Flagge daran, und auch sonst deutete nichts darauf hin, daß Alarm gegeben worden war. Alles sah so still aus, daß es ihn an ein großes, einsames Grabmal erinnerte.
Unbeirrt kreuzte das Schiff die träge Küstendünung, und er konnte jetzt tiefer in die Bucht hineinsehen. Ein kleines Fahrzeug lag vor Anker, wahrscheinlich eine Brigg, und ein paar Dhaus. Wie mochten Giffard und seine Marine-Infanteristen wohl vorangekommen sein? Würden sie den Fährdamm einnehmen können?
Er sah, wie die Restless vorsichtig seewärts kreuzte. Gott sei Dank hatte Poate, ihr junger Kommandant, zwei Lotgasten in die Rüsten beordert. Der Meeresboden fiel hier sehr steil ab, aber es war immerhin möglich, daß jemand bei der letzten Kartenkorrektur eine Sandbank oder ein Riff übersehen hatte.
Da die andere Landzunge weiter vorstieß, passierten sie sie in wesentlich kürzerer Entfernung, und als sie den stillen Bau des Forts verdeckte, rief Keverne aus:»Sehen Sie mal, Sir! Da ist jemand wach!»
Bolitho nahm ein Teleskop und stellte es auf die Schräge der schnabelförmigen Landzunge ein. Zwei Reiter, reglos wie aus Stein; nur manchmal schlugen die Pferde mit den Schweifen oder die langen weißen Burnusse wehten im Wind. Sie sahen auf die Schiffe hinunter, die da weit vor ihnen langsam im zunehmenden Sonnenlicht segelten. Dann, wie auf Signal, wendeten beide ihre Pferde und verschwanden hinter der Kante, ohne Eile, ohne Zeichen von Erregung.
«Jetzt sagen sie denen Bescheid, daß wir da sind, Jungs«, bemerkte jemand.
Bolitho warf einen Blick auf Broughton, doch der starrte auf den leeren Abhang, als ob die beiden Reiter noch da wären.
Bis auf die normalen Geräusche von See und Wind war alles ruhig-zu ruhig; das Gefühl, auf etwas zu warten, war stärker geworden, und das machte nervös. Giffard hatte sogar die Musiker seiner MarineInfanteristen mitgenommen; Bolitho dachte flüchtig daran, den Schiffsfiedler irgendeinen geläufigen Shanty spielen zu lassen, den die
Matrosen mitsingen konnten. Aber Broughton schien nicht in der Stimmung für solche Zerstreuung zu sein, und so ließ er den Gedanken wieder fallen.
Von Broughtons geradem Rücken ging sein Blick zu ein paar Matrosen bei den Neunpfündern. Sie standen und starrten über die Netze auf die langsam vorüberziehende Mauer aus Felsen und Steinen. Wie seltsam das den meisten vorkommen mußte! Sie wußten vielleicht nicht einmal, wo sie sich befanden, oder warum sie wegen eines so armseligen Hafendorfes ihre gesunden Knochen, ja sogar ihr Leben riskieren mußten. Und Broughton — der hatte wahrscheinlich ebenso seine Zweifel darüber, warum er überhaupt hier war, doch konnte er sie und seine Spannung mit niemandem teilen.
Bolitho drehte sich um — er wollte sehen, was Draffen machte; aber der war bereits unter Deck gegangen und wollte anscheinend das Weitere den Experten überlassen. Langsam schritt er wieder nach Luv hinüber. Im Kriege, das wußte er aus bitterer Erfahrung, gab es keine Experten. Man hörte nie auf zu lernen — es sei denn, man fiel.
«Die Zeus ist dicht unter der Landzunge, Sir!«Bolitho ging zur Luvseite des Achterdecks.»Danke, Mr. Tothill. «Es kostete ihn Anstrengung, so gelassen und ruhig zu sprechen. Das Schlußmanöver: das Sammeln des Geschwaders, dann das Halsen und nochmalige Absegeln des gleichen leeren, dürren Küstenstrichs hatten viel länger gedauert als gedacht. Das Absetzen von Rattrays Booten war ziemlich schnell gegangen; aber als sie etwas tiefer in die Bucht kamen, war deutlich zu sehen, daß die Männer an den Riemen große Schwierigkeiten hatten, die überladenen Fahrzeuge zu den vorgesehenen Landestellen zu bringen. Dicht unter der Wasseroberfläche lagen Klippen, und außerdem war da eine bisher unbekannte Grundströmung, die die Boote herumwarf wie Blätter in einem Mühlteich, wobei die Riemen zeitweise völlig aus dem Takt gerieten und wild in der Luft fuchtelten.