«Nun, Mr. Meheux«, sagte er,»ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mir mitteilen würden, was Sie gesehen und welche Schlüsse Sie daraus gezogen haben. «Er fuhr herum, denn von irgendwo fiel ein Block herunter und schlug in einen Haufen zerschmetterter Planken ein, die einst ein Boot gewesen waren.»Aber bitte kurz.»
Der Zweite der Euryalus blickte auf dem chaotischen Deck umher und sagte:»Sie hat ein paar böse Lecks und auch mehrere Risse dicht über der Wasserlinie. Wenn die größer werden, nimmt sie mehr Wasser über, als die Pumpen bewältigen können. «Er hielt inne, damit Bolitho das taktmäßige Janken der Pumpen hören konnte.»Das eigentliche Problem aber sind die vielen Menschen unter Deck, Sir. Außer der Besatzung hat das Schiff etwa einhundert Passagiere an Bord: Frauen und sogar Kinder sind da unten zusammengepfercht. Wenn die durchdrehen, gibt es eine Riesenpanik. «Er deutete auf das zerschmetterte Bootslager.»Und die Boote sind auch Schrott.»
Bolitho rieb sich das Kinn. Alle diese Passagiere. Warum hatte der Kapitän eigentlich deren Leben riskiert, als er gegen einen Dreidecker zu kämpfen versuchte? Das war doch sinnlos. Es paßte auch gar nicht zu der gewohnten Haltung der Spanier, wenn es ums eigene Überleben ging.
«Sie haben dreißig Mann unter Ihrem Befehl, Mr. Meheux. «Er versuchte, nicht an die unten in Todesangst zusammengedrängten Menschen zu denken.»Lassen Sie noch ein paar Matrosen der Navarra an die Pumpen gehen. Wenn sie sich ablösen, müßten wir mit dem überkommenden Wasser fertig werden. Und dann das Ruder. Haben Sie da schon etwas unternommen?»
«Mein Unteroffizier, Mr. McEwen, kümmert sich um die Züge, Sir. «Meheux schüttelte den Kopf. Offenbar hielt er das alles für Zeitverschwendung.»Aber auch der Kopf der Ruderpinne ist beschädigt und wird in schwerer See bestimmt brechen.»
Midshipman Ashton war durch die Schanzpforte an Deck geklettert und schüttelte sich wie ein halb ertrunkener Terrier.
Bolitho warf rasch einen Blick zum Himmel. In dem schwindenden Licht schienen sich die Wolken schneller auszubreiten und tiefer herabzukommen. Auf jeden Fall haben wir eine böse Nacht vor uns, dachte er grimmig.
Er sah, daß Meheux ihn besorgt beobachtete, zweifellos neugierig, wie sein Kommandant mit einer unlösbaren Aufgabe fertig werden würde. Mit einer Zuversicht, die er ganz bestimmt nicht verspürte, schlug Bolitho dem Leutnant auf die Schulter.»Aber Mr. Meheux, Sie machen ja ein Gesicht wie ein Säufer über einer Schale Milch! Jetzt schicken Sie Ihre Männer an die Arbeit, und Mr. Ashton soll mir die Passagiere zeigen.»
Er ging mit Ashton zum Kampanjeluk. Dort lag ein Toter in goldbetreßtem Rock, der von der brennenden Leiter gefallen war. Das mußte wohl der Kapitän sein. Das Gesicht war fast weggerissen, doch auf dem makellos sauberen Rock war kaum ein Tröpfchen Blut.
Zwei bezopfte Matrosen standen am Rad und drehten es vorsichtig nach den rauhen Anweisungen des Unteroffiziers. Sie sahen Bolitho, und der eine von ihnen grinste mit offensichtlicher Erleichterung.»Wir gehen doch von Bord, Sir? Die läßt sich nie mehr ordentlich steuern, so wie das aussieht.»
Daß sie auf einmal ihren Kommandanten höchstselbst zu Gesicht bekamen, nachdem sie schon gedacht hatten, sie seien auf diesem havarierten Kahn ihrem Schicksal ausgeliefert, ließ ihn vorübergehend den gewohnten Respekt beim Anreden eines Offiziers vergessen. Aber Bolitho sah nur, wie sich das zutrauliche Gesicht des Mannes in einem breiten Grinsen spaltete. Unter den mehr als achthundert Seelen der Euryalus hatte er ihn bisher kaum bemerkt, aber in diesem Moment kam er ihm wie ein alter Freund an einem fremden, unheimlichen Ort vor.
Er lächelte.»Ich glaube, so ein Schiff ist immer noch besser als ein
Floß.»
Als er sich unter die Decksbalken duckte, blinzelte der Matrose seinem Kameraden zu.»Was hab ich dir gesagt? Hab doch gewußt, unser Dick[24] läßt uns nich' lange allein!»
Der Unteroffizier, dessen Hände und Unterarme mit schwarzglänzender Ruderschmiere bedeckt waren, tauchte hinter ihnen auf und knurrte:»Wahrscheinlich weiß er, daß er sich nich' auf euch verlassen kann — genau wie ich. «Aber sogar er war überrascht, daß sein Kommandant an Bord gekommen war — und das genügte ihm vorerst.
Ein Deck tiefer ging Bolitho hinter Ashton den gefährlich schiefen Gang hinunter und vernahm bei jedem Schritt das Knarren und Stöhnen der Balken, das Klappern und Rasseln von zerbrochenem Gerät und allerlei weggeworfenem Zeug. Auch die gegen den Rumpf schlagenden Wellen waren zu hören und das lange, zitternde Protestieren der Planken, wenn sich das Schiff durch ein Wellental quälte und dann schwerfällig wieder hob. Einmal stolperte er und sah im Licht der schwankenden Laterne den Leichnam eines Mannes über dem Lukensüll liegen. Der Körper war von einer Kanonenkugel, die durch eine offene Stückpforte geflogen sein mußte, fast entzweigeschnitten; sie mußte ihn erwischt haben, als er eine Meldung an Deck bringen wollte oder vor dem gnadenlosen Bombardement um sein Leben gerannt war.
Zwei Matrosen standen an einem anderen Niedergang, der oben mit einem schweren Lukendeckel gesichert war. Beide waren bewaffnet und starrten Bolitho überrascht und beinahe schuldbewußt an. Vermutlich haben sie ein paar Kabinen durchstöbert, dachte er. Hauptsache, daß sie nicht an das Schnapslager geraten waren oder in der Seekiste eines Offiziers Wein gefunden hatten. Dreißig angetrunkene Männer wären für die Rettung des Schiffes kaum von Nutzen gewesen.
«Sind alle Passagiere hier unten?«fragte er scharf.»Aye, Sir. «Der eine stieß mit seiner Muskete auf den Lukendek-kel.»Die meisten sind schon vor dem Angriff runtergebracht worden,
Sir.»
«Aha. «Das war eine kluge Maßnahme gewesen, so schrecklich es auch sein mochte, dem Geschützfeuer hier unten hilflos ausgesetzt zu sein. Aber andernfalls hätte es sicher außer dem Kapitän und den Offizieren noch mehr Tote gegeben.
«Sie wollen doch nicht etwa runter, Captain?«flüsterte Allday.
Bolitho hörte gar nicht hin.»Macht das Luk auf!»
Mit geneigtem Kopf hörte er zu, wie Meheux oben seine Befehle brüllte, und horchte auf das darauffolgende Tappen nackter Füße an Deck. Anscheinend war da wieder eine gefährliche Situation eingetreten; aber Meheux konnte allein damit fertig werden. Jetzt mußte er erst die Passagiere sehen, denn hier unter der Wasserlinie würde er sicher die Antwort auf eine seiner Fragen finden.
Zuerst konnte er überhaupt nichts sehen. Aber als die Matrosen den Lukendeckel aufgeklappt hatten und Ashton seine Laterne direkt über die Leiter hielt, spürte er die plötzlich von unten hochsteigende Angst und Spannung wie etwas Körperliches. Er stieg zwei Stufen hinab, und als das Licht der Laterne auf ihn fiel, barsten ihm fast die Ohren von dem wilden Geschrei. Hunderte von Augen, so kam es ihm vor, glühten in dem grellen Lichtstrahl auf, wie von allem Menschlichen losgelöst. Aber die Stimmen waren menschlich genug. Über dem Schreckens- und Angstgebrüll erhoben sich die schrillen Schreie von Frauen und Kindern. Dabei wurde ihm klar, daß viele von denen da unten überhaupt nicht wußten, was an der Oberwelt geschehen war. Er blieb stehen.»Still da unten!«brüllte er hinab.»Ich sorge dafür, daß euch nichts.»
Es war hoffnungslos. Schon faßten Händen nach den Stufen und nach seinen Beinen, die Masse der glühenden Augen kam schwankend näher, weil die weiter hinten Stehenden nachdrängten.
«Lassen Sie mich versuchen, Sir«, keuchte Ashton,»ich kann ein bißchen Spanisch.»
Bolitho zog ihn die Leiter hinunter und brüllte:»Sagen Sie ihnen bloß, sie sollen ruhig sein!»
Ashton versuchte, sich in dem Getöse verständlich zu machen, und Bolitho rief den beiden Matrosen zu:»Holt noch ein paar Mann her! Schnell, sonst trampeln sie euch zu Mus!»
Ashton zupfte ihn am Ärmel.»Sir! Da will Ihnen jemand etwas sagen!»