Trotzdem zweifelte Bolitho nicht, daß Sir Lucius eine ganze Menge von Strategie und internationaler Flottenpolitik verstand. Vor drei Monaten hatte Broughton in der Seeschlacht von St. Vincent[18] mitgekämpft; und sein taktischer Verstand, seine Fähigkeit, ein anschauliches Bild vom Verlauf des Kampfes zu geben, hatten Bolitho sehr beeindruckt.
Bolitho konnte sich noch daran erinnern, mit wieviel Neid und Bitterkeit er die Nachricht von Jervis' großem Sieg aufgenommen hatte, während er selbst diese elende Routineblockade vor Südirland fuhr. Hätte der Feind wirklich eine Invasion von Irland versucht und dabei die Euryalus mitsamt ihrem kleinen Geschwader in ein Gefecht verwickelt, so wäre ihm anders zumute gewesen. Beim eifrigen Studium der Berichte über Jervis' Sieg war ihm wieder einmal klargeworden, wieviel Glück dazu gehörte.
Der alte Admiral Jervis war daraufhin zum Earl St. Vincent ernannt worden; und ein anderer Name, Kommodore[19] Nelson, ließ Hoffnung für die Zukunft anklingen. Bolitho erinnerte sich daran, den jungen Nelson anläßlich der unglückseligen Aktion von Toulon[20] kurz gesehen zu haben. Nelson war zwei Jahre jünger als er und doch schon Kommodore; wenn er am Leben blieb, würde er bald noch höher auf der Rangliste steigen.
Einem so begabten Seeoffizier neidete Bolitho seine verdienten Erfolge nicht. Doch dabei war er sich bewußt, daß er selbst ins Hintertreffen geraten war — oder so kam es ihm jedenfalls vor.
Drei weitere Linienschiffe, lauter Vierundsiebziger, waren zur Eu-ryalus gestoßen, sowie noch eine Fregatte außer der Auriga, und eine kleine Korvette. Prächtig in der Bucht von Falmouth nebeneinander aufgereiht, boten sie einen eindrucksvollen Anblick; aber er wußte aus bitterer Erfahrung, daß sie, einmal auf hoher See und in der wogenden Leere verstreut, nicht mehr so machtvoll und unbesiegbar aussehen würden. Unwahrscheinlich, daß Broughtons kleines Geschwader anders als am Rande größerer Unternehmungen eingesetzt werden würde.
Der einzige Lichtblick in diesen ersten hektischen Tagen von Broughtons Kommando war, daß er Bolithos Vorschläge und Bitten für die Auriga-Besatzung doch noch akzeptiert hatte. Bootsmannsmaat Taylor saß in Arrest und würde zweifellos degradiert werden. Kapitän Brice und sein Erster Offizier waren noch an Land in der Garnison, und der Dienstbetrieb an Bord der Auriga lief erstaunlich glatt. Außer ihren eigenen neu eingetroffenen Marine-Infanteristen war keine besondere Wache an Bord, und Bolitho hatte Leutnant Keverne als vorläufigen Kommandanten hinübergeschickt, bis ein neuer ernannt wurde. Die Tatsache, daß Keverne offiziell und mit Zustimmung Brough-tons ausgewählt worden war, ließ durchaus vermuten, daß er bald befördert und in seinem Kommando bestätigt werden sollte. Bolitho verlor ihn nur ungern, freute sich aber auch, daß er eine so unerwartet Chance bekam.
Die Pferde gingen langsamer und erreichten die höchste Stelle der Straße, so daß Bolitho Meer und Hafen wie eine bunte Landkarte vor sich ausgebreitet sah. Das vor Anker liegende Geschwader, das geschäftige Kommen und Gehen von Captain Rooks Patrouillebooten vermittelten den Eindruck bester Planung und Bereitschaft. Auf hoher See würde es also nicht allzu lange dauern, bis sich die Kommandanten so aufeinander eingestellt hatten, daß die Schiffe im Verband zusammenwirken und gemeinsam nach den Befehlen ihres Admirals manövrieren konnten. Aber wann sie endlich segeln und welchen endgültigen Auftrag sie bekommen würden, das blieb immer noch Geheimnis. Broughton wußte bestimmt eine ganze Menge mehr, als er verlauten ließ, und hatte wiederholt gesagt:»Machen Sie nur meine Schiffe segelfertig, Bolitho. Das andere erledige ich dann schon, sobald ich von London Bescheid habe.»
Broughton war anscheinend davon überzeugt, daß sich alles zu seiner Befriedigung entwickeln würde. An den Schiffen wurde von Sonnenaufgang bis — Untergang gearbeitet: Übernahme von Verpflegung und Trinkwasser, von Ersatzteilen, Gerät, und auch ihrem Anteil an menschlicher Ware, die Rooks Preßkommandos brachten. Der Admi-ral war meist in seiner Kajüte oder an Land, wo er mit irgendwelchen städtischen Beamten speiste, die ihm bei der Ausrüstung von Nutzen sein konnten.
Die düstere Spannung, welche die Ankunft der Auriga verursacht hatte, war größtenteils geschwunden, und Bolitho registrierte dankbar, daß Broughton die Affäre so human und nachsichtig behandelte. Was in Spithead passiert war, durfte nie wieder passieren, und er würde nicht nur die Auriga, sondern jedes Schiff des Geschwaders genau im Auge behalten müssen, um dessen völlig sicher zu sein.
Bolitho nahm seinen Degen vom Nebensitz auf. Die Berline rollte über das abgefahrene Kopfsteinpflaster und hielt quietschend vor dem Gasthof am Kai. Die nassen Pferde wandten die Köpfe, warteten ungeduldig auf Futter und Ruhe.
Ein paar Stadtbewohner spazierten auf dem Markt herum, doch Bo-litho fielen sofort die rotröckigen Soldaten auf und eine Atmosphäre allgemeiner Spannung, die noch nicht geherrscht hatte, als er mit Thelwalls Leichnam nach Truro aufgebrochen war. Jetzt kam ihm Rook entgegen, offenbar erleichtert, aber auch besorgt.
«Was ist los?«Bolitho nahm ihn beim Arm und zog ihn in den Schatten des Gasthofes.
Rook blickte sich vorsichtig um.»Die Meuterei in der Nore-Flotte hat sich ausgebreitet: die ganze Flotte ist in der Hand der Meuterer und unter Waffen!«Er senkte die Stimme.»Eine Brigg aus Plymouth hat die Nachricht gebracht. Ihr Admiral ist mächtig wütend.»
Bolitho schritt mit ihm zusammen weiter, äußerlich ruhig, doch seine Gedanken rasten angesichts dieser neuen Entwicklung.
«Wie kommt es, daß wir das erst jetzt erfahren?»
Rook zerrte an seiner Halsbinde, als ersticke sie ihn.»Eine Patrouille fand den Kurier aus London tot in einer Hecke, mit durchschnittener Kehle und leerer Depeschentasche. Jemand hat gewußt, daß er hierher ritt, und dafür gesorgt, daß Admiral Broughton so lange wie möglich nichts erfuhr!«Rook winkte einem Matrosen am Kai:»Rufen Sie ein Boot her, Mann!»
Bolitho trat an die Kante der sonnenwarmen Steinmauer und sah zu den Schiffen hinüber. Das Bild der Euryalus flirrte in der heißen Luft, und sowohl in den Masten als auch an Deck schien lebhafter Betrieb zu herrschen.
War es möglich, daß sich die Lage so schnell änderte? Eben noch schien alles einigermaßen in Ordnung, und auf einmal war eine ganze Flotte in hellem Aufruhr?
Zögernd fuhr Rook fort:»Ich weiß nicht, ob ich mir erlauben darf, es zu sagen; aber ich glaube, Sir Lucius Broughton war schwer erschüttert von dem, was er in Spithead erlebt hat. Wer in Zukunft versucht, sich ihm zu widersetzen, dem geht es ziemlich dreckig.»
Das Boot schrammte am Kai, und Bolitho stieg mit Rook hinein. Rook blieb stehen, bis Bolitho sich im Heck gesetzt hatte, und gab dann dem Bootsführer ein Zeichen, Kurs auf das Flaggschiff zu nehmen.
«Hoffentlich können wir ohne weitere Verzögerung in See gehen«, sagte Bolitho ernst.»Wenn wir erst klar von Land sind, haben wir Zeit zum Nachdenken. «Rook sagte nichts dazu — Bolitho hatte auch nur laut gedacht.
Es schien endlos zu dauern, bis sie bei dem Dreidecker längsseit waren; er sah schon aus einiger Entfernung, daß die Enternetze aufge-riggt waren, daß Marine-Infanteristen auf den Decksgängen patrouillierten und Posten an Kampanje und Vorschiff aufgezogen waren.
Rasch kletterte er an Bord und lüftete seinen Hut zum Trillern der Pfeifen und dem Stampfen der präsentierten Musketen.
Weigall, der Dritte Offizier, meldete nervös:»Der Admiral erwartet Sie, Sir. Tut mir leid, daß Ihre Gig nicht am Kai war, aber alle Bootsfahrten sind gesperrt.»
«Danke«, nickte Bolitho. Ohne sich seine Spannung merken zu lassen, schritt er nach achtern in den Schatten der Kampanje. Er mußte ruhig und normal erscheinen, obwohl ihm ganz anders zumute war.