Bevor Hewlitt etwas erwidern konnte, fuhr der Padre fort: »Die Hudlarerin hat Ihnen ja bereits erklärt, daß Ihre ganze Unterhaltung aufgenommen und Ihrer Krankenakte für spätere Studien beigefügt wurde. Aufgrund der ungewöhnlichen Beschaffenheit Ihres Falls ist dies ohne Ihr Wissen und Ihre Zustimmung geschehen. Medalont hielt es für besser, Sie darüber in Unkenntnis zu lassen, weil Sie sich dann ungehemmter ausdrücken und Ihre Aussagen in medizinischer Hinsicht um so wertvoller sein würden, wenngleich das meiste des aufgezeichneten Materials wahrscheinlich nutzlos sein dürfte. Jetzt wissen Sie, daß alles, was Siegesagt haben, aufgenommen worden ist. Ich bin jedoch weniger daran interessiert, was Sie während dieses Gespräches über sich gesagt haben, als an Ihrer emotionalen Reaktion auf Patientin Morredeths Verletzung. Sind Sie über ihre äußerliche Verunstaltung eigentlich sehr bestürzt gewesen? Und sind Sie überhaupt bereit, mit mir darüber zu sprechen?«
Hewlitt entspannte sich allmählich. Eigentlich hatte er von Lioren ein Art Standpauke erwartet, aber wahrscheinlich mußte er sich als Krankenhauspfarrer mit kritischen Äußerungen ein wenig zurückhalten.
»Ja, erwarten Sie aber nicht zu viel, Padre«, antwortete er nach einer kurzen Pause. »Ich empfinde gegenüber Morredeth keine besonders stark ausgeprägten Gefühle, sondern eher so etwas wie Mitleid, wie man es auch einer entfernten Bekannten entgegenbringt. Als ich erfahren habe, welch enorme Probleme ihr das beschädigte Fell bereitet, habe ich lediglich versucht, ihr ein wenig zu helfen, indem ich über meine Probleme geredet habe, die ich in erster Linie als Jugendlicher gehabt hatte. Doch anscheinend muß ich etwas Falsches gesagt haben.«
»Nun, in einer emotional stark angespannten Situation haben Sie immerhin versucht, das Richtige zu sagen«, meinte Lioren. »Einiges von dem, was Sie gesagt haben, war sogar … Ist Ihr Problem, das Sie mit Morredeth besprochen haben, eigentlich behoben oder nicht? Ihrer Krankengeschichte habe ich nämlich entnommen, daß Sie bis heute noch nie eine Lebensgefährtin gehabt haben und auch keine kurzfristigen Beziehungen eingegangen sind.«
Erstaunt darüber, weshalb dieses Gespräch von Morredeths Problemen plötzlich auf seine eigenen gelenkt wurde, antwortete Hewlitt: »Nein, das Problem ist nicht behoben. Ich fühle mich in weiblicher Gesellschaft immer noch nicht wohl, obwohl ich mich von Frauen angezogen fühle und meine erste körperliche Reaktion ganz normal ist. Ich fürchte mich davor, daß wieder solch eine peinliche Situation auftreten könnte, die übrigens für beide Partner unangenehm wäre, und vor demnachfolgenden Kummer, der sich statt des intensiven Hochgefühls einstellt, das man normalerweise nach dem Beischlaf empfindet. So etwas möchte ich auf keinen Fall noch einmalerleben… Warum möchten Sie das überhaupt wissen? Wollen Sie damit in irgendeiner Weise mein Verhalten kritisieren? Halten Sie das Ganze eher für eine moralische oder für eine medizinische Frage?«
»Es ist eine medizinische Frage«, antwortete Lioren, ohne zu zögern. »Aber wenn die Angelegenheit Sie in dem Maße plagt, daß Sie geistlichen Rat oder Trost in Anspruch nehmen möchten, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Ich besitze umfassende Kenntnisse über die Grundsätze und Überzeugungen der am häufigsten vertretenen Religionen in der Föderation, so daß ich Ihnen vielleicht helfen kann. Wenn Sie irgendwelche religiösen Überzeugungen haben, dann würde mich das sehr interessieren. Sollten Sie keine haben, brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen – ich habe nämlich nicht vor, zu predigen oder irgendwelche Glaubenslehren zu verbreiten.
Unter anderem habe ich mich nach Ihrem Problem erkundigt, weil ich über einige Erfahrung auf dem medizinischen Sektor verfüge. Ich praktiziere zwar selbst nicht mehr als Arzt, aber manchmal macht es mir einfach Spaß, meine ehemaligen Kollegen im Nachhinein zu kritisieren. Ich denke, daß so etwas schlimmstenfalls ein verzeihlicher Verstoß ist, eine kleine Sünde übertriebenen Stolzes. Und wer bin ich, daß ich es mir erlauben könnte, ein anderes Wesen zu kritisieren, weil es das ehelose Leben bevorzugt? Auf jeden Fall…«
»Entschuldigen Sie, Padre«, unterbrach ihn Hewlitt, »aber ich fühle mich heute morgen nicht besonders aufnahmefähig. Was genau wollen Sie eigentlich von mir wissen?«
Lioren gab ein tiefes, glucksendes Geräusch von sich, das nicht übersetzt wurde, und entgegnete dann: »Alles, was Sie mir freiwillig erzählen möchten. Was Ihre… ahm… verlängerte Pubertät angeht, die Sie noch immer zu beschäftigen scheint, so ist dieses Thema durch Ihre aufgezeichnete Unterhaltung mit Morredeth bereits ausführlich behandelt worden. Also sollten wir es vorläufig abhaken. Statt dessen würde ich gerne wissen, ob es in Ihrem Leben auch andere Ereignisse gegeben hat, die Sie in körperlicher, seelischer oder religiöser Hinsicht bekümmerthaben, auch wenn diese von Ihren früheren Ärzten als zu unwesentlich oder nebensächlich betrachtet wurden, um sie in Ihre Krankenakte aufzunehmen. Können Sie sich an irgendwelche Vorfälle dieser Art erinnern?«
»Wenn sie nicht in meiner Krankenakte festgehalten worden sind, dann habe ich sie vielleicht vergessen anzugeben«, antwortete Hewlitt. »Außerdem habe ich eigentlich schon damals die schlechte Angewohnheit gehabt, mich unentwegt lauthals zu beklagen, sobald ich annahm, daß mit mir etwas nicht stimmte.«
Lioren schwieg für einen Augenblick. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und betrachtete Hewlitt mit allen vier Augen, als er schließlich sagte: »Sie sind schon ein sehr eigenartiger Fall, Patient Hewlitt. Nachdem wir uns mit Ihren aufgezeichneten Gesprächen mit Medalont, Braithwaite, der hudlarischen Schwester und Ihren drei kartenspielenden Freunden beschäftigt haben und insbesondere mit der Sensibilität, die sie bei der Unterhaltung mit Morredeth vergangene Nacht unter Beweis gestellt haben, sind wir zu dem Entschluß gekommen, daß bei Ihnen vom Verstand her eigentlich alles in bester Ordnung ist. Bedenkt man, welche mentalen Folgen Ihr ewiger Streit mit der ärztlichen Zunft bei Ihnen hinterlassen haben muß, dann verfügen Sie über eine äußerst stabile und in sich geschlossene Persönlichkeit. Sollte Ihr Problem tatsächlich eine psychische Komponente haben, was wir allmählich glauben, dann muß sie so tief vergraben sein, daß wir nicht in der Lage sind, sie aufzuspüren.«
»Ich habe immer wieder daraufhingewiesen, daß ich mir das alles nicht einbilde und…«, warf Hewlitt ein, doch Lioren sprach weiter, als ob Hewlitt nichts gesagt hätte.
»Außerdem sind Sie ein außerordentlich gesundes Exemplar eines terrestrischen DBDGs. Abgesehen von dem unerklärlichen Herzstillstand am Abend Ihrer Ankunft, haben Ihre Sensoren seit Ihrer Einlieferung stets optimale medizinische Werte angezeigt. Die gegenwärtige leichte Abschwächung Ihrer Lebenszeichen führen wir auf Ihre schlaflose Nacht zurück, in der Sie sich, dessen bin ich mir sicher, hauptsächlich Gedanken über Morredeth gemacht haben.«»Also verfüge ich über einen gesunden Verstand, der im Körper eines Supermanns steckt«, merkte Hewlitt spöttisch an, ohne ein Hehl aus seinem aufflammenden Zorn zu machen, denn offenbar wollte man ihn, wie schon so oft in der Vergangenheit, wieder einmal vorzeitig als ›einen etwas untypischen Simulanten‹ aus dem Krankenhaus entlassen. »Vielen Dank auch, daß Sie mir diese Tatsache zum hundertsten Mal bestätigen, Padre. Worum geht es Ihnen eigentlich? Was genau soll ich Ihnen denn erzählen?«