»Das auf dem katholischen Friedhof?«
»Klar. Es ist tadellos, trocken, sandig, etwas erhöht – sie kann froh sein, daß sie es hat!«
»Warum? Für sich und ihren Mann? Sie wird doch wegen der Zwillinge jetzt auch auf den Stadtfriedhof wollen, wenn sie stirbt.«
»Als Kapitalanlage«, sagt Wilke, ungeduldig über meine Stumpfsinnigkeit.»Ein Grab ist heute eine erstklassige Kapitalanlage, das weiß doch jeder! Sie kann jetzt schon ein paar Millionen daran verdienen, wenn sie es verkaufen will. Sachwerte steigen ja wie verrückt!«
»Richtig. Ich hatte das einen Moment lang vergessen. Weshalb sind Sie noch hier?«
Wilke zeigt auf einen Sarg.»Für Werner, den Bankier. Gehirnblutung. Darf kosten, was es will, echtes Silber, feinstes Holz, echte Seide, Überstundentarif – wie wäre es mit etwas Hilfe? Kurt Bach ist nicht da. Sie können dafür morgen früh das Denkmal verkaufen. Keiner weiß es bis jetzt. Werner ist nach Geschäftsschluß umgefallen.«
»Heute nicht. Ich bin todmüde. Gehen Sie doch kurz vor Mitternacht in die Rote Mühle und kommen Sie nach eins zurück, um weiterzuarbeiten – dann ist das Problem der Geisterstunde gelöst.«
Wilke denkt nach.»Nicht schlecht«, erklärt er.»Aber brauche ich da nicht einen Smoking?«
»Nicht einmal im Traum.«
Wilke schüttelt den Kopf.»Ausgeschlossen, trotzdem! Die eine Stunde würde mich mehr kosten, als ich in der ganzen Nacht verdienen würde. Aber ich könnte in eine kleine Kneipe gehen.«Er schaut mich dankbar an.»Notieren Sie die Adresse Werners«, sagt er dann.
Ich schreibe sie auf. Sonderbar, denke ich, das ist schon der zweite heute abend, der einen Rat von mir befolgt – nur für mich selbst weiß ich keinen.»Komisch, daß Sie soviel Angst vor Gespenstern haben«, sage ich.»Dabei sind Sie doch gemäßigter Freidenker.«
»Nur tagsüber. Nicht nachts. Wer ist nachts schon Freidenker?«
Ich mache ein Zeichen zu Kurt Bachs Bude hinunter. Wilke winkt ab.»Es ist leicht, Freidenker zu sein, wenn man jung ist. Aber in meinem Alter, mit einem Leistenbruch und einer verkapselten Tuberkulose -«
»Schwenken Sie um. Die Kirche liebt bußfertige Sünder.«
Wilke hebt die Schultern.»Wo bliebe da mein Selbstrespekt?«
Ich lache.»Nachts haben Sie keinen, was?«
»Wer hat nachts schon welchen? Sie?«
»Nein. Aber vielleicht ein Nachtwächter. Oder ein Bäcker, der nachts Brot bäckt. Müssen Sie denn unbedingt Selbstrespekt haben?«
»Natürlich. Ich bin doch ein Mensch. Nur Tiere und Selbstmörder haben keinen. Es ist schon ein Elend, dieser Zwiespalt! Immerhin, ich werde heute nacht mal zur Gastwirtschaft Blume gehen. Das Bier ist da prima.«
Ich wandere zurück über den dunklen Hof. Vor dem Obelisken schimmert es bleich. Es ist Lisas Blumenstrauß. Sie hat ihn dort deponiert, bevor sie zur Roten Mühle gegangen ist. Ich stehe einen Augenblick unschlüssig; dann nehme ich ihn auf. Der Gedanke, daß Knopf ihn schänden könnte, ist zuviel. Ich nehme ihn mit auf meine Bude und stelle ihn in eine Terrakotta-Urne, die ich aus dem Büro heraufhole. Die Blumen bemächtigen sich sofort des ganzen Zimmers. Da sitze ich nun, mit braunen und gelben und weißen Chrysanthemen, die nach Erde und Friedhof riechen, als würde ich begraben! Aber habe ich nicht wirklich etwas begraben?
Um Mitternacht halte ich den Geruch nicht mehr aus. Ich sehe, daß Wilke fortgeht, um die Geisterstunde in der Kneipe zu überstehen, und nehme die Blumen und bringe sie in seine Werkstatt. Die Tür steht offen; das Licht brennt noch, damit der Gespensterfürchter keinen Schreck bekommt, wenn er zurückkehrt. Eine Flasche Bier steht auf dem Sarg des Riesen. Ich trinke sie aus, stelle Glas und Flasche auf das Fensterbrett und öffne das Fenster, damit es aussieht, als hätte ein Geist Durst gehabt. Dann streue ich die Chrysanthemen vom Fenster her zum halbfertigen Sarg des Bankiers Werner und lege an das Ende eine Handvoll wertloser Tausendmarkscheine. Soll Wilke sich irgendeinen Reim darauf machen! Wenn Werners Sarg deswegen nicht fertig wird, so ist das kein Unglück – der Bankier hat Dutzende von kleinen Hausbesitzern mit Inflationsgeld um ihr bißchen Besitz gebracht.
XX
»Möchtest du etwas sehen, das fast so ans Herz greift wie ein Rembrandt?«fragt Georg.»Immer los.«
Er nimmt etwas aus seinem Taschentuch und läßt es auf den Tisch fallen, daß es klingt. Es dauert eine Weile, bis ich es erkenne. Gerührt schauen wir es an. Es ist ein goldenes Zwanzigmarkstück. Das letztemal, daß ich eines gesehen habe, war vor dem Kriege.»Das waren Zeiten!«sage ich.»Frieden herrschte, Sicherheit regierte, Majestätsbeleidigungen wurden noch mit Festungshaft gesühnt, der Stahlhelm war unbekannt, unsere Mütter trugen Korsetts und hohe Kragen an ihren Blusen mit eingenähten Fischbeinstäbchen, Zinsen wurden gezahlt, die Mark war ebenso unantastbar wie Gott, und vierteljährlich schnitt man geruhsam die Coupons von den Staatsanleihen ab und bekam sie in Gold ausbezahlt. Laß dich küssen, du gleißendes Symbol einer versunkenen Zeit!«
Ich wiege das Geldstück in der Hand. Es trägt das Bildnis Wilhelms des Zweiten, der jetzt in Holland Holz sägt und sich einen Spitzbart hat wachsen lassen. Auf dem Konterfei trägt er noch den stolz auf gezwirbelten Schnurrbart, der damals hieß: Es ist erreicht. Es war tatsächlich erreicht.»Woher hast du es?«frage ich.
»Von einer Witwe, die einen ganzen Kasten voll davon geerbt hat.«
»Guter Gott! Was ist es wert?«
»Vier Milliarden Papiermark. Ein kleines Haus. Oder ein Dutzend herrlicher Frauen. Eine Woche in der Roten Mühle. Acht Monate Pension für einen Schwerkriegsverletzten -«
»Genug -«
Heinrich Kroll tritt ein, die Fahrradspangen an den gestreiften Hosen.»Dies hier muß Ihr treues Untertanenherz entzücken«, sage ich und wirble den goldenen Vogel vor ihm durch die Luft. Er fängt ihn auf und starrt ihn mit wäßrigen Augen an.»Seine Majestät«, sagt er ergriffen.»Das waren noch Zeiten! Wir hatten noch unsere Armee!«
»Es waren anscheinend für jeden verschiedene Zeiten«, erwiderte ich.
Heinrich blickt mich strafend an.»Sie werden doch wohl zugeben, daß es damals bessere Zeiten waren als heute!«
»Möglich!«
»Nicht möglich! Bestimmt! Wir hatten Ordnung, wir hatten eine stabile Währung, wir hatten keine Arbeitslosen, aber dafür eine blühende Wirtschaft, und wir waren ein geachtetes Volk. Oder wollen Sie das auch nicht zugeben?«
»Ohne weiteres.«
»Na, also! Und was haben wir heute?«
»Unordnung, fünf Millionen Arbeitslose, eine Schwindelwirtschaft, und wir sind ein besiegtes Volk«, erwidere ich.
Heinrich ist verblüfft. So leicht hat er sich das nicht gedacht.»Na also«, wiederholt er.»Heute sitzen wir im Dreck, und damals saßen wir im Fett. Die Schlußfolgerung werden ja wohl auch Sie ziehen können, wie?«
»Ich bin nicht sicher. Was ist sie?«
»Das ist doch verdammt einfach! Daß wir wieder einen Kaiser und eine anständige nationale Regierung haben müssen!«
»Halt!«sage ich.»Sie haben etwas vergessen. Sie haben das wichtige Wort „weil“ vergessen. Das aber ist der Kern des Übels. Es ist der Grund dafür, daß heute Millionen wie Sie mit hocherhobenen Rüsseln wieder solchen Unsinn herumtrompeten. Das kleine Wort „weil“.«
»Was?«fragt Heinrich verständnislos.
»Weil!«wiederhole ich.»Das Wort: „weil“! Wir haben heute fünf Millionen Arbeitslose, eine Inflation, und wir sind besiegt worden, weil wir vorher Ihre geliebte nationale Regierung hatten! Weil diese Regierung in ihrem Größenwahn Krieg gemacht hat! Weil sie diesen Krieg verloren hat! Deshalb sitzen wir heute in der Scheiße! Weil wir Ihre geliebten Holzköpfe und Uniformpuppen als Regierung hatten! Und wir müssen sie nicht zurückhaben, damit es uns besser gehe, sondern wir müssen verhüten, daß sie wiederkommen, weil sie uns sonst noch einmal in Krieg und Scheiße jagen. Sie und Ihre Genossen sagen: Früher ging’s uns gut, heute geht’s uns schlecht – also wieder her mit der alten Regierung! In Wirklichkeit heißt es aber: Heute geht’s uns schlecht, weil wir früher die alte Regierung hatten – also zum Teufel mit ihr! Kapiert! Das Wörtchen: Weil! Das wird gern von Ihren Genossen vergessen! Weil!«