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Der Mann aus Glas steht bewegungslos in der milden Dämmerung vor einem Rosenbeet. Gregor der Siebente geht in der Kastanienallee spazieren. Eine ältere Schwester führt einen gebeugten Greis mit langen Haaren herum, der sie immer wieder in den kräftigen Hintern zu kneifen versucht und jedesmal fröhlich kichert. Neben mir auf einer Bank sitzen zwei Männer, von denen jeder dem anderen erklärt, warum der andere verrückt sei, ohne daß sie sich zuhören. Eine Gruppe von drei Frauen in gestreiften Kleidern begießt die Blumen; schweigend gleiten sie mit ihren Zinnkannen durch den Abend.

Ich hocke auf der Bank neben dem Rosenbeet. Alles ist hier friedlich und richtig. Niemand kümmert sich darum, daß der Dollar um zwanzigtausend Mark an einem Tag gestiegen ist. Niemand erhängt sich deswegen, wie in der Stadt gestern nacht ein altes Ehepaar, das heute morgen im Kleiderschrank gefunden wurde – jeder an einem Stück Wäscheleine. Außer den beiden war nichts mehr im Schrank; alles war verkauft und versetzt worden, auch das Bett und der Schrank selbst. Als der Käufer die Möbelstücke abholen wollte, entdeckte er die Toten. Sie hatten sich aneinander geklammert und streckten sich die geschwollenen blauen Zungen entgegen. Sie waren sehr leicht, und man konnte sie rasch abnehmen. Beide waren sauber gewaschen, die Haare waren gebürstet und die Kleider tadellos geflickt und sauber. Der Käufer, ein vollblütiger Möbelhändler, erbrach sich, als er sie sah, und erklärte, den Schrank nicht mehr haben zu wollen. Erst abends änderte er seine Meinung und ließ ihn abholen. Die Toten lagen um diese Zeit auf dem Bett und mußten auch da heruntergenommen werden, weil das Bett ebenfalls abgeholt wurde. Die Nachbarn liehen ein paar Tische, und die alten Leute wurden nun darauf aufgebahrt, die Köpfe mit Seidenpapier verhüllt. Das Seidenpapier war das einzige gewesen, was ihnen in der Wohnung noch gehört hatte. Sie hinterließen einen Brief, in dem sie erklärten, daß sie sich eigentlich durch Gas hätten töten wollen, aber die Gasgesellschaft hätte es abgestellt gehabt, weil es zu lange nicht bezahlt worden war. Deshalb entschuldigten sie sich bei dem Möbelhändler für die Umstände, die sie ihm machten.

Isabelle kommt heran. Sie trägt eine kurze blaue Hose, die die Knie frei läßt, eine gelbe Bluse und um den Hals eine Bernsteinkette.»Wo warst du?«fragt sie atemlos.

Ich habe sie ein paar Tage nicht gesehen. Jedesmal nach der Andacht bin ich aus der Kirche geschlüpft und nach Hause gegangen. Es war nicht leicht, auf das hervorragende Abendessen und den Wein mit Bodendiek und Wernicke zu verzichten; aber es war mir lieber, bei Butterbroten und Kartoffelsalat mit Gerda meine Ruhe zu haben.

»Wo warst du?«wiederholt Isabelle.

»Draußen«sage ich ablehnend.»Da, wo Geld die Hauptsache ist.«

Sie setzt sich auf die Lehne der Bank. Ihre Beine sind sehr braun, als hätte sie viel in der Sonne gelegen. Die beiden Männer neben mir sehen unmutig auf; dann erheben sie sich und gehen. Isabelle gleitet auf die Bank.»Wozu sterben Kinder, Rudolf?«fragt sie.

»Das weiß ich nicht.«

Ich sehe sie nicht an. Ich will nicht wieder von ihr eingefangen werden; es ist schon genug, wie sie dasitzt mit den langen Beinen und der Tennishose, als hätte sie geahnt, daß ich von jetzt an nach Georgs Rezept leben will.

»Wozu werden sie geboren, wenn sie gleich wieder sterben?«

»Das mußt du den Vikar Bodendiek fragen. Er behauptet, Gott führe Buch über jedes Haar, das von irgendeinem Kopfe fällt, und alles habe einen Sinn und eine Moral.«

Isabelle lacht.»Gott führt Buch? Über wen? Über sich selbst? Wozu? Er weiß doch alles.«

»Ja«, sage ich und bin plötzlich sehr ärgerlich, ohne zu wissen, warum.»Er ist allwissend, allgütig, gerecht und voll Liebe – und trotzdem sterben Kinder und Mütter, die sie brauchen, und niemand weiß, warum so viel Elend in der Welt ist.«

Isabelle wendet sich mir mit einem Ruck zu. Sie lacht nicht mehr.»Warum sind nicht alle Menschen einfach glücklich, Rudolf?«flüstert sie.

»Das weiß ich nicht. Vielleicht, weil Gott sich sonst langweilen würde.«

»Nein«, sagt sie rasch.»Nicht deshalb.«

»Warum denn?«

»Weil er Angst hat.«

»Angst? Wovor?«

»Wenn alle glücklich wären, brauchte man keinen Gott mehr.«

Ich sehe sie jetzt an. Ihre Augen sind sehr durchsichtig. Auch ihr Gesicht ist braun und schmaler als früher.»Er ist nur für das Unglück da«, sagt sie.»Dann braucht man ihn und betet. Deshalb macht er es.«

»Es gibt auch Menschen, die zu Gott beten, weil sie glücklich sind.«

»So?«Isabelle lächelt ungläubig.»Dann beten sie, weil sie Angst haben, daß sie es nicht bleiben werden. Alles ist Angst, Rudolf. Weißt du das nicht?«

Der fröhliche Greis wird von der kräftigen Schwester vorübergeführt. Aus einem Fenster vom Hauptgebäude kommt das hohe Summen eines Staubsaugers. Ich sehe mich um. Das Fenster ist offen, aber vergittert – ein schwarzes Loch, aus dem der Staubsauger schreit wie eine verdammte Seele.

»Alles ist Angst«, wiederholt Isabelle.»Hast du nie Angst?«

»Ich weiß es nicht«, erwidere ich, immer noch auf der Hut.»Ich glaube schon. Ich hatte sehr oft Angst im Kriege.«

»Das meine ich nicht. Das ist vernünftige Angst. Ich meine die ohne Namen.«

»Welche? Angst vor dem Leben?«

Sie schüttelt den Kopf.»Nein. Früher.«

»Vor dem Tode?«

Sie schüttelt wieder den Kopf. Ich frage nicht weiter. Ich will da nicht hinein. Schweigend sitzen wir eine Zeitlang in der Dämmerung. Wieder einmal habe ich das Gefühl, daß Isabelle nicht krank sei; aber ich lasse es nicht aufkommen. Wenn es aufkommt, ist die Verwirrung wieder da, und ich will sie nicht. Isabelle rührt sich schließlich.

»Warum sagst du nichts?«fragt sie.

»Was sind schon Worte?«

»Viel«, flüstert sie.»Alles. Hast du Angst davor?«

Ich denke nach.»Wahrscheinlich haben wir alle etwas Angst vor großen Worten. Es ist so entsetzlich viel damit gelogen worden. Vielleicht haben wir auch Angst vor unsern Gefühlen. Wir trauen ihnen nicht mehr.«

Isabelle zieht die Beine auf die Bank.»Man braucht sie aber, Liebster«, murmelt sie.»Wie kann man sonst leben?«

Der Staubsauger hat aufgehört zu summen. Es ist plötzlich sehr still. Kühl kommt von den Beeten der Hauch der feuchten Erde. Ein Vogel ruft in den Kastanien, immer denselben Ruf. Der Abend ist plötzlich eine Waage, die auf beiden Seiten gleich viel Welt trägt. Ich fühle sie, als balanciere sie ohne Schwere auf meiner Brust. Nichts kann mir geschehen, denke ich, solange ich so ruhig weiter atme.

»Hast du Angst vor mir?«flüstert Isabelle.

Nein, denke ich und schüttle den Kopf; du bist der einzige Mensch, vor dem ich keine Angst habe. Auch nicht mit Worten. Vor dir sind sie nie zu groß und nie lächerlich. Du verstehst sie immer, denn du lebst noch in der Welt, wo Worte und Gefühle eins und Lüge und Vision dasselbe sind.

»Warum sagst du nichts?«fragt sie.

Ich hebe die Schultern.»Manchmal kann man nichts sagen, Isabelle. Und es ist oft schwer, loszulassen.«

»Was loszulassen?«

»Sich selbst. Da sind viele Widerstände.«

»Ein Messer kann sich nicht selbst schneiden, Rudolf. Wozu hast du Angst?«

»Ich weiß es nicht, Isabelle.«

»Warte nicht zu lange, Liebster. Sonst ist es zu spät. Man braucht Worte«, murmelt sie.

Ich antworte nicht.»Gegen die Angst, Rudolf«, sagt sie.»Sie sind wie Lampen. Sie helfen. Siehst du, wie grau alles wird? Kein Blut ist jetzt mehr rot. Warum hilfst du mir nicht?«

Ich gebe meinen Widerstand endlich auf.»Du süßes, fremdes und geliebtes Herz«, sage ich.»Wenn ich dir nur helfen könnte!«

Sie beugt sich vor und legt die Arme um meine Schultern.

»Komm mit mir! Hilf mir! Sie rufen!«

»Wer ruft?«

»Hörst du sie nicht? Die Stimmen. Sie rufen immerfort!«

»Niemand ruft, Isabelle. Nur dein Herz. Aber was ruft es?«

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