Ich mache es Watzek leicht. Er braucht nur ja oder nein zu antworten. Diesmal braucht er sogar nur zu nicken.
»Gut«, sage ich.»Und deshalb wird man nachts fast erstochen.«
Watzek läßt sich mühsam auf die Treppenstufen nieder.
»Kamerad, du hast mir auch schwer zugesetzt. Sieh mich an.«
»Das Auge ist noch da.«
Watzek betastet das trocknende schwarze Blut.»Sie werden bald im Zuchthaus sitzen, wenn Sie so weitermachen«, sage ich.
»Was soll ich tun? Es ist meine Natur.«
»Erstechen Sie sich selbst, wenn Sie schon erstechen müssen. Das erspart Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten.«
»Manchmal möchte man das schon! Kamerad, was soll ich machen? Ich bin verrückt nach der Frau. Und sie kann mich nicht ausstehen.«
Ich fühle mich plötzlich gerührt und müde und lasse mich neben Watzek auf der Treppe nieder.»Es ist der Beruf«, sagt er verzweifelt.»Sie haßt den Geruch, Kamerad. Aber man riecht doch nach Blut, wenn man dauernd Pferde schlachtet.«
»Haben Sie keinen zweiten Anzug? Einen, den Sie anziehen können, wenn Sie vom Schlachthof weggehen?«
»Das geht schlecht. Die anderen Schlächter würden denken, ich wolle besser sein als sie. Der Geruch geht auch durch.
»Wie ist es mit Baden?«
»Baden?«fragt Watzek.»Wo? Im Städtischen Hallenbad? Das ist doch geschlossen, wenn ich um sechs Uhr früh vom Schlachthof komme.«
»Gibt es keine Duschen auf dem Schlachthof?«
Watzek schüttelt den Kopf.»Nur Schläuche, um den Boden abzuspülen. Um darunter zu gehen, ist es jetzt schon zu herbstlich.«
Ich sehe das ein. Eiskaltes Wasser im November ist kein Vergnügen. Wenn Watzek Karl Brill wäre, hätte er allerdings da keine Sorgen. Karl ist der Mann, der im Winter das Eis des Flusses aufhackt und mit seinem Klub darin schwimmt.»Wie ist es mit Toilettenwasser?«frage ich.
»Das kann ich nicht versuchen. Die anderen würden mich für einen schwulen Bruder halten. Sie kennen die Leute vom Schlachthof nicht!«
»Wie wäre es, wenn Sie Ihren Beruf änderten?«
»Ich kann nichts anderes«, sagt Watzek trübe.
»Pferdehändler«, schlage ich vor.»Das ist so ähnlich.«
Watzek winkt ab. Wir sitzen eine Weile. Was geht mich das an? denke ich. Und wie kann man ihm schon helfen? Lisa liebt die Rote Mühle. Es ist nicht sosehr Georg; es ist der Drang über ihren Pferdeschlächter hinaus.»Sie müssen ein Kavalier werden«, sage ich schließlich.»Verdienen Sie gut?«
»Nicht schlecht.«
»Dann haben Sie Chancen. Alle zwei Tage ins Stadtbad, und einen neuen Anzug, den Sie nur zu Hause anziehen. Ein paar Hemden, eine oder zwei Krawatten, können Sie das schaffen?«
Watzek grübelt darüber nach.»Sie meinen, das könnte helfen?«
Ich denke an meinen Abend unter den prüfenden Augen von Frau Terhoven.»Man fühlt sich besser in einem neuen Anzug«, erwidere ich.»Ich habe das selbst erfahren.«
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich.«
Watzek sieht mit Interesse auf.»Aber Sie sind doch tadellos in Schale.«
»Das kommt darauf an. Für Sie. Für andere Leute nicht. Ich habe das gemerkt.«
»Wirklich? Kürzlich?«
»Heute«, sage ich.
Watzek reißt das Maul auf.»So was! Da sind wir ja fast wie Brüder. Da staunt man!«
»Ich habe mal irgendwo gelesen, alle Menschen wären Brüder. Da staunt man noch mehr, wenn man sich die Welt ansieht.«
»Und wir hätten uns fast erschlagen«, sagt Watzek glücklich.
»Das tun Brüder häufig.«
Watzek erhebt sich.»Ich gehe morgen baden.«Er tastet nach dem linken Auge.»Eigentlich wollte ich mir ja eine SA-Uniform bestellen. Die sind gerade herausgekommen in München.«
»Ein flotter, zweireihiger, dunkelgrauer Anzug ist besser. Ihre Uniform hat keine Zukunft.«
»Vielen Dank«, sagt Watzek.»Aber vielleicht schaffe ich beides. Und nimm’s nicht übel, Kamerad, daß ich dich abstechen wollte. Morgen schicke ich dir dafür auch eine schöne Portion erstklassiger Pferdewurst.«
XXIV
»Der Hahnrei«, sagt Georg,»gleicht einem eßbaren Haustier, sagen wir, einem Huhn oder einem Kaninchen. Man verspeist es mit Genuß, solange man es nicht persönlich kennt. Wächst man aber damit auf, spielt mit ihm, hegt und pflegt es – dann kann nur ein Rohling sich einen Braten daraus machen. Man soll Hahnreis deshalb niemals kennen.«
Ich deute wortlos auf den Tisch. Dort liegt zwischen den Steinproben eine dicke rote Wurst – Pferdewurst, ein Geschenk Watzeks, der sie morgens für mich hinterlassen hat.»Ißt du sie?«fragte Georg.
»Selbstverständlich esse ich sie. Ich habe schon schlechteres Pferdefleisch in Frankreich gegessen. Aber weiche nicht aus! Dort liegt die Spende Watzeks. Ich bin in einem Dilemma.«
»Nur durch deine Lust an dramatischen Situationen.«
»Gut«, sage ich.»Ich gebe das zu. Immerhin habe ich dir das Leben gerettet. Die alte Konersmann wird weiter aufpassen. Ist dir die Sache das wert?«
Georg holt sich eine Brasil aus dem Schrank.»Watzek hält dich jetzt für seinen Bruder«, erwidert er.»Ist das dein Gewissenskonflikt?«
»Nein. Er ist außerdem noch Nazi – das löscht die einseitige Bruderschaft wieder aus. Aber bleiben wir einmal dabei.«
»Watzek ist auch mein Bruder«, erklärt Georg und bläst den weißen Rauch der Brasil in das Gesicht einer heiligen Katharina aus bemaltem Gips.»Lisa betrügt mich nämlich ebenso wie ihn.«
»Erfindest du das jetzt?«frage ich überrascht.
»Nicht im geringsten. Woher soll sie sonst all ihre Kleider haben? Watzek, als Ehemann, macht sich darüber keine Gedanken, wohl aber ich.«
»Du?«
»Sie hat es mir selbst gestanden, ohne daß ich sie gefragt habe. Sie erklärte, sie wollte nicht, daß irgendein Betrug zwischen uns bestehe. Sie meinte das ehrlich – nicht witzig.«
»Und du? Du betrügst sie mit den Fabelfiguren deiner Phantasie und deiner Magazine.«
»Selbstverständlich. Was heißt überhaupt betrügen? Das Wort wird immer nur von denen gebraucht, denen es gerade passiert. Seit wann hat Gefühl etwas mit Moral zu tun? Habe ich dir dafür hier, unter den Sinnbildern der Vergänglichkeit, deine Nachkriegserziehung gegeben? Betrügen – was für ein vulgäres Wort für die feinste, letzte Unzufriedenheit, das Suchen nach mehr, immer mehr -«
»Geschenkt!«unterbreche ich ihn.»Der kurzbeinige, aber sehr kräftige Mann, den du soeben draußen mit einer Beule am Kopf in die Tür einbiegen siehst, ist der frisch gebadete Schlächter Watzek. Sein Haar ist geschnitten und noch naß von Bay Rum. Er will seiner Frau gefallen. Rührt dich das nicht?«
»Natürlich; aber er wird seiner Frau nie gefallen.«
»Warum hat sie ihn denn geheiratet?«
»Sie ist inzwischen sechs Jahre älter geworden. Geheiratet hat sie ihn im Kriege, als sie sehr hungrig war und er viel Fleisch besorgen konnte.«
»Warum geht sie nicht von ihm weg?«
»Weil er droht, daß er dann die ganze Familie umbringen will.«
»Hat sie dir das alles erzählt?«
»Ja.«
»Lieber Gott«, sage ich.»Und du glaubst das!«
Georg bläst einen kunstvollen Rauchring.»Wenn du stolzer Zyniker einmal so alt bist wie ich, wirst du hoffentlich auch herausgefunden haben, daß Glauben nicht nur bequem ist, sondern oft sogar stimmt.«
»Gut«, sage ich.»Wie ist es dabei aber mit dem Schlachtmesser Watzeks? Und mit den Augen der Witwe Konersmann?«
»Betrüblich«, erwidert er.»Und Watzek ist ein Idiot. Er hat augenblicklich ein besseres Leben als je zuvor – weil Lisa ihn betrügt und ihn deshalb besser behandelt. Warte ab, wie er schreien wird, wenn sie ihm wieder treu ist und ihre Wut darüber an ihm ausläßt. Und nun komm essen! Nachdenken können wir über den Fall immer noch.«
Eduard trifft fast der Schlag, als er uns sieht. Der Dollar ist nahe an die Billion herangeklettert, und wir scheinen immer noch eine unerschöpfliche Menge von Essenmarken zu haben.»Ihr druckt sie!«behauptet er.»Ihr seid Falschmünzer! Ihr druckt sie geheim!«