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Die Kapelle spielt jetzt»Das Schwarzwaldmädel«. Die Hüter der Nationalhymne ziehen sich unter dunklen Drohungen zurück. Es ist möglich, daß sie draußen über uns herfallen wollen. Wir schätzen sie ab; sie hocken in der Nähe der Tür. Es sind etwa zwanzig. Der Kampf wird ziemlich aussichtslos für uns sein.

Doch auf einmal kommt unerwartet Hilfe. Ein vertrockneter kleiner Mann tritt an unseren Tisch. Es ist Bodo Lederhose, ein Händler in Häuten und altem Eisen. Wir haben mit ihm in Frankreich gelegen.»Kinder«, sagt er.»Habe gerade gesehen, was los ist. Bin mit meinem Verein hier. Drüben hinter der Säule. Wir sind ein gutes Dutzend. Werden euch helfen, wenn die Arschgesichter was wollen. Gemacht?«

»Gemacht, Bodo. Du bist von Gott gesandt worden.«

»Das nicht. Aber dies ist kein Platz für vernünftige Leute. Wir sind nur für ein Glas Bier hereingekommen. Leider hat der Wirt hier das beste Bier in der ganzen Stadt. Sonst ist er ein charakterloses Arschloch.«

Ich finde, daß Bodo ziemlich weitgeht, in diesen Zeiten selbst von einem so einfachen menschlichen Organ noch Charakter zu verlangen; aber es ist trotzdem erhebend, gerade deswegen. In faulen Zeiten soll man unmögliche Ansprüche stellen.

»Wir gehen bald«, sagt Bodo noch.»Ihr auch?«

»Sofort.«

Wir zahlen und erheben uns. Bevor wir an der Tür sind, sind die Hüter der Nationalhymne bereits draußen. Sie haben wie durch Zauber auf einmal Knüppel, Steine und Schlagringe in den Händen. Im Halbkreis stehen sie vor dem Eingang.

Bodo ist plötzlich zwischen uns. Er schiebt uns zur Seite, und seine zwölf Mann gehen vor uns durch die Tür. Sie bleiben draußen stehen.»Irgendwelche Wünsche, Ihr Rotzköpfe?«fragt Bodo.

Die Hüter des Reiches starren uns an.»Feiglinge!«sagt schließlich der Befehlshaber, der mit zwanzig Mann über uns drei herfallen wollte.»Wir werden euch schon noch erwischen!«

»Sicher«, sagt Willy.»Dafür haben wir ein paar Jahre im Schützengraben gelegen. Seht aber zu, daß ihr immer drei- oder viermal so viele seid. Übermacht gibt Patrioten Zuversicht.«

Wir gehen mit Bodos Verein die Große Straße hinunter. Die Sterne stehen am Himmel. In den Läden brennt Licht. Manchmal, wenn man mit Kameraden vom Kriege zusammen ist, erscheint einem das immer noch sonderbar und herrlich und atemberaubend und unbegreiflich: daß man so dahinschlendern kann und frei ist und lebt. Ich verstehe plötzlich, was Wernicke gemeint hat mit der Dankbarkeit. Es ist eine Dankbarkeit, die sich nicht an jemand richtet – einfach die, davongekommen zu sein für etwas mehr Zeit – denn wirklich davon kommt natürlich keiner.

»Ihr müßt ein anderes Café haben«, sagt Bodo.»Wie ist es mit unserem? Da gibt es keine solchen Brüllaffen. Kommt mit, wir zeigen es euch!«

Sie zeigen es uns. Unten gibt es Kaffee, Selters, Bier und Eis – oben sind die Versammlungsräume. Bodos Verein ist ein Gesangsverein. Die Stadt wimmelt von Vereinen, die alle ihre Vereinsabende, ihre Statuten, ihre Tagesordnungen haben und sich sehr wichtig und ernst nehmen. Bodos Verein tagt donnerstags im ersten Stock.

»Wir haben einen schönen vierstimmigen Männerchor«, sagt er.»Nur im ersten Tenor sind wir etwas schwach. Komisch, es sind wohl sehr viele erste Tenöre im Kriege gefallen. Und der Nachwuchs ist erst im Stimmbruch.«

»Willy ist ein erster Tenor«, erkläre ich.

»Tatsächlich?«Bodo sieht ihn interessiert an.»Sing mal diesen Ton nach, Willy.«

Bodo flötet wie eine Drossel. Willy flötet nach.»Gutes Material«, sagt Bodo.»Nun diesen!«

Willy schafft auch den zweiten.»Werde Mitglied«, drängt Bodo jetzt.»Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja immer wieder austreten.«

Willy ziert sich etwas, aber zu unserem Erstaunen beißt er an. Er wird sofort zum Schatzmeister des Klubs ernannt. Dafür zahlt er eine doppelte Lage Bier und Schnaps und fügt für alle Erbsensuppe und Eisbein hinzu. Bodos Verein ist politisch demokratisch; nur im ersten Tenor haben sie einen konservativen Spielwarenhändler und einen halbkommunistischen Schuster; aber bei ersten Tenören kann man eben nicht wählerisch sein, es gibt zu wenige. Bei der dritten Lage erzählt Willy, daß er eine Dame kenne, die ebenfalls ersten Tenor singen könne und sogar Baß. Der Verein schweigt, kaut Eisbein und zweifelt. Georg und ich greifen ein und erklären die Duettfähigkeit Renée de la Tours. Willy schwört, daß sie kein wirklicher Baß sei, sondern von Geburt reiner Tenor. Darauf wird mit mächtigem Beifall geantwortet. Renée wird in Abwesenheit zum Mitglied und sofort zum Ehrenmitglied ernannt. Willy spendet die Runden dafür. Bodo träumt von mysteriösen Sopraneinlagen, wodurch andere Gesangvereine bei Sängerfesten wahnsinnig werden sollen, weil sie glauben müssen, daß Bodos Klub einen Eunuchen bei sich habe, zumal Renée natürlich in Männerkleidung auftreten muß, da der Verein sonst als gemischter Chor klassifiziert würde.

»Ich werde es ihr heute abend noch sagen«, erklärt Willy.»Kinder, wird sie lachen! In allen Stimmlagen!«

Georg und ich gehen schließlich. Willy bewacht vom ersten Stock aus den Platz; er rechnet, als alter Soldat, noch mit einem Hinterhalt der Hüter der Nationalhymne. Aber nichts geschieht. Der Marktplatz liegt ruhig unter den Sternen. Rundum stehen die Fenster der Kneipen offen. Gewaltig dringt es aus Bodos Vereinslokal:»Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben«?

»Sag mal, Georg«, frage ich, als wir in die Hakenstraße einbiegen.»Bist du eigentlich glücklich?«

Georg Kroll lüftet seinen Hut vor etwas Unsichtbarem in der Nacht.»Eine andere Frage!«sagt er.»Wie lange kann man auf einer Nadelspitze sitzen?«

XI

Regen stürzt vom Himmel. Nebel dampfen aus dem Garten dagegen. Der Sommer ist ertrunken, es ist kalt, und der Dollar steht auf hundertzwanzigtausend Mark. Mit mächtigem Krach bricht ein Teil der Dachtraufe nieder, und das Wasser schießt vor unserem Fenster herunter wie ein grauer Glaswall. Ich verkaufe zwei Engel aus Bisquitporzellan und einen Imortellenkranz an eine zarte Frau, deren beide Kinder an Grippe gestorben sind. Nebenan liegt Georg und hustet. Er hat auch die Grippe, aber ich habe ihn mit einer Kanne Glühwein gestärkt. Er hat außerdem ein halbes Dutzend Zeitschriften um sich herumliegen und benutzt die Gelegenheit, sich über die letzten Ehen, Scheidungen und Skandale der großen Welt in Cannes, Berlin, London und Paris zu informieren. Heinrich Kroll, unverwüstlich in gestreiften Hosen, Radfahrerklammern und einem passend gewählten dunklen Regenmantel, tritt ein.»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen einige Bestellungen diktiere?«fragt er mit unübertrefflichem Sarkasmus.

»Keineswegs. Immer los.«

Er gibt einige Aufträge an. Es sind kleinere Hügelsteine aus rotem Syenit, eine Marmorplatte, ein paar Grabeinfassungen – der Alltag des Todes, nichts Besonderes. Nachher steht er noch eine Zeitlang unschlüssig herum, wärmt sich am kalten Ofen seinen Hintern, betrachtet eine Anzahl Gesteinsproben, die seit zwanzig Jahren im Büro auf den Regalen liegen, und schießt endlich los:»Wenn einem derartige Schwierigkeiten gemacht werden, ist es kein Wunder, wenn wir bald pleite sind!«

Ich antworte nicht, um ihn zu ärgern.

»Pleite, sage ich«, erklärt er.»Und ich weiß, was ich sage.«

»Wirklich?«Ich blicke ihn freundlich an.»Wozu dann die Verteidigung? Jeder glaubt es Ihnen.«

»Verteidigung? Ich brauche mich nicht zu verteidigen! Aber was da in Wüstringen passiert ist -«

»Hat man die Mörder des Tischlers gefunden?«

»Mörder? Was geht das uns an? Und wer redet bei so was von Mord? Es war ein Unfall. Der Mann hatte sich das selbst zuzuschreiben! Was ich meine, ist, wie Sie mit dem Vorsteher Döbbeling dort umgegangen sind! Und dann noch der Witwe des Tischlers umsonst einen Grabstein anzubieten!«

Ich drehe mich zum Fenster und blicke in den Regen. Heinrich Kroll gehört zu den Menschen, die nie einen Zweifel an ihren Anschauungen haben – das macht sie nicht nur langweilig, sondern auch gefährlich. Sie sind die eherne Masse unseres geliebten Vaterlandes, mit der man immer wieder in einen Krieg ziehen kann. Nichts kann sie belehren, sie sind mit den Händen an der Hosennaht geboren, und sie sind stolz darauf, auch so zu sterben. Ich weiß nicht, ob es den Typ in anderen Ländern auch gibt – sicher aber nicht in solchen Mengen.

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