Nach einer Weile höre ich wieder, was der kleine Dickkopf redet. Er hat also mit dem Vorsteher eine lange Sitzung gehabt und die Sache bereinigt. Nur seiner Persönlichkeit ist das zu danken. Wir dürfen wieder Grabsteine nach Wüstringen liefern.
»Was sollen wir jetzt tun?«frage ich.»Sie anbeten?«
Er wirft mir einen giftigen Blick zu.»Passen Sie auf, daß Sie nicht einmal zu weit gehen!«
»Wie weit?«
»Zu weit. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier Angestellter sind.«
»Ich vergesse das dauernd. Sonst müßten Sie mir dreifaches Gehalt zahlen – als Zeichner, Bürochef und Reklamechef. Im übrigen stehen wir nicht im militärischen Verhältnis zueinander, sonst müßten Sie vor mir strammstehen. Und wenn Sie wollen, kann ich ja einmal mit Ihrer Konkurrenz telefonieren – Hollmann und Klotz nehmen mich sofort.«
Die Tür öffnet sich, und Georg erscheint in einem fuchsroten Pyjama.»Redest du von Wüstringen, Heinrich?«
»Wovon sonst?«
»Dann geh in den Keller und schäme dich. In Wüstringen ist ein Mensch getötet worden! Ein Leben ist untergegangen. Eine Welt ist für jemand zerstört worden. Jeder Mord, jeder Totschlag ist der erste Totschlag der Welt. Kain und Abel, immer wieder! Wenn du und deine Genossen das einmal begreifen würden, gäbe es nicht so viel Kriegsgeschrei auf dieser an sich gesegneten Erde!«
»Sklaven und Knechte gäbe es dann! Kriecher vor dem unmenschlichen Vertrag von Versailles!«
»Der Vertrag von Versailles! Natürlich!«Georg tut einen Schritt vorwärts. Der Duft des Glühweins umschwebt ihn stark.»Hätten wir den Krieg gewonnen, dann hätten wir unsere Gegner natürlich mit Liebe und Geschenken überhäuft, was? Hast du vergessen, was du und deine Genossen alles annektieren wollten? Die Ukraine, Brie, Longwy und das gesamte Erz- und Kohlenbecken Frankreichs? Hat man uns die Ruhr weggenommen? Nein, wir haben sie noch! Willst du behaupten, daß unser Friedensvertrag nicht zehnmal härter geworden wäre, hätten wir nur einen diktieren können? Habe ich deine große Schnauze darüber nicht selbst noch 1917 gehört? Frankreich sollte ein Staat dritten Ranges werden, riesige Stücke Rußlands müßten annektiert werden, und alle Gegner hätten zu zahlen und Sachwerte abzuliefern bis zum Weißbluten! Das warst du, Heinrich! Jetzt aber brüllst du im Chor mit über die Ungerechtigkeit, die uns angetan wurde. Es ist zum Kotzen mit eurem Selbstmitleid und eurem Rachegeschrei! Immer ist ein anderer schuld! Ihr stinkt vor Selbstgerechtigkeit, ihr Pharisäer! Wißt ihr nicht, daß das erste Zeichen eines Mannes darin besteht, daß er dafür einsteht, was er getan hat? Euch aber ist nie etwas anderes als das größte Unrecht geschehen, und ihr unterscheidet euch nur in einem von Gott – Gott weiß alles, aber ihr wißt alles besser.«
Georg sieht sich um, als erwache er. Sein Gesicht ist jetzt so rot wie sein Pyjama, und sogar die Glatze hat eine rosige Farbe. Heinrich ist erschreckt zurückgewichen. Georg folgt ihm. Er ist sehr wütend. Heinrich weicht weiter zurück.»Steck mich nicht an!«schreit er.»Du bläst mir ja deine Bazillen ins Gesicht! Wohin soll das führen, wenn wir beide die Grippe haben?«
»Niemand dürfte mehr sterben«, sage ich.
Es ist ein schönes Bild, die kämpfenden Brüder zu sehen. Georg im roten Satinpyjama, schwitzend vor Wut, und Heinrich im kleinen Gesellschaftsanzug, voller Sorge, die Grippe zu erwischen. Die Szene wird außer mir noch von Lisa beobachtet, die in einem Morgenrock mit eingedruckten Segelschiffen trotz des Wetters weit aus dem Fenster hängt. Im Hause Knopf steht die Tür offen. Der Regen hängt wie ein Vorhang von Glasperlen davor. Es ist so dunkel drinnen, daß die Mädchen bereits Licht gemacht haben. Man könnte glauben, sie schwämmen da herum wie die Rheintöchter Wagners. Unter einem riesigen Schirm wandelt der Tischler Wilke wie ein schwarzer Pilz über den Hof. Heinrich Kroll verschwindet, buchstäblich von Georg aus dem Büro gedrängt.»Gurgeln Sie mit Salzsäure«, rufe ich ihm nach.»Grippe ist bei Leuten Ihres Schlages tödlich.«
Georg bleibt stehen und lacht.»Was bin ich für ein Idiot«, sagt er.»Als ob die Sorte je etwas lernen würde!«
»Woher hast du das Pyjama?«frage ich.»Bist du in die kommunistische Partei eingetreten?«
Händeklatschen kommt von gegenüber. Lisa überschüttet Georg mit Beifall – ein starkes Stück von Disloyalität gegen Watzek, den aufrechten Nationalsozialisten und künftigen Schlachthofdirektor. Georg verneigt sich, die Hand aufs Herz gedrückt.»Leg dich ins Bett«, sage ich.»Du bist ja ein Springbrunnen, so schwitzest du!«
»Schwitzen ist gesund! Schau dir den Regen an! Da schwitzt der Himmel. Und drüben das Stück Leben, in seinem offenen Morgenrock, mit weißen Zähnen und voll von Gelächter! Was tun wir hier? Warum zerspringen wir nicht wie Feuerwerk? Wenn wir einmal richtig wüßten, was Leben ist, würden wir zerspringen! Wozu verkaufe ich Denkmäler? Warum bin ich nicht eine Sternschnuppe? Oder ein Vogel Greif, der über Hollywood hinstreicht und die wunderbarsten Frauen aus ihren Swimmingpools raubt? Weshalb müssen wir in Werdenbrück leben und Kämpfe im Café Central haben, anstatt eine Karawane nach Timbuktu auszurüsten und mit mahagonifarbenen Trägern in den weiten afrikanischen Morgen zu ziehen? Warum haben wir kein Bordell in Yokohama? Antworte! Es ist wichtig, das sofort zu wissen! Warum schwimmen wir nicht mit purpurnen Fischen um die Wette in den roten Abenden von Tahiti? Antworte!«
Er greift nach der Flasche Kornschnaps.»Halt!«sage ich.»Es ist noch Wein da. Ich werde ihn sofort auf dem Spirituskocher heiß machen. Keinen Schnaps jetzt! Du hast Fieber! Roten, heißen Wein, gewürzt mit den Spezereien Indiens und der Sundainseln!«
»Gut! Erhitze ihn! Aber warum sind wir nicht selbst auf den Inseln der Hoffnung und schlafen mit Frauen, die nach Zimt riechen und deren Augen weiß werden, wenn wir sie unter dem südlichen Kreuz begatten, und die Schreie ausstoßen wie die Papageien und die Tiger? Antworte!«
Die blaue Flamme des Spirituskochers brennt wie das blaue Licht des Abenteuers im Halbdunkel des Büros. Der Regen rauscht wie das Meer.»Wir sind auf dem Weg, Kapitän«, sage ich und nehme einen gewaltigen Zug Kornschnaps, um Georg nachzukommen.»Die Karavelle passiert gerade Santa Cruz, Lissabon und die Goldküste. Die Sklavinnen des Arabers Mohammed ben Hassan ben Watzek starren aus ihren Kajüten und winken. Hier ist Eure Wasserpfeife!«
Ich reiche Georg eine Zigarre aus der Kiste für die besten Agenten. Er entzündet sie und bläst ein paar tadellose Rauchringe. Sein Pyjama zeigt dunkle Wasserflecke.»Auf dem Wege«, sagt er.»Warum sind wir noch nicht da?«
»Wir sind da. Man ist immer und überall da. Zeit ist ein Vorurteil. Das ist das Geheimnis des Lebens. Man weiß es nur nicht. Man bemüht sich immer, irgendwo anzukommen!«
»Warum weiß man es nicht?«fragt Georg.
»Zeit, Raum und das Kausalgesetz sind der Schleier der Maja, der die freie Sicht behindert.«
»Warum?«
»Sie sind die Peitschen, mit denen Gott verhindert, daß wir ihm gleich werden. Er jagt uns mit ihnen durch ein Panorama von Illusionen und durch die Tragödie der Dualität.«
»Welcher Dualität?«
»Der von Ich und Welt. Von Sein und Leben. Objekt und Subjekt sind nicht mehr eins. Geburt und Tod sind die Folgen. Die Kette klirrt. Wer sie zerreißt, zerreißt auch Geburt und Tod. Laßt es uns versuchen, Rabbi Kroll!«
Der Wein dampft. Er riecht nach Gewürznelken und Zitronen. Ich gebe Zucker hinein, und wir trinken. Beifall kommt aus der Kabine des Sklavenschiffes Mohammed ben Hassan ben Jussuf ben Watzek auf der anderen Seite des Golfes. Wir verneigen uns und setzen die Gläser nieder.»Wir sind also unsterblich?«fragt Georg kurz und ungeduldig.
»Nur hypothetisch«, erwidere ich.»In der Theorie – denn unsterblich ist der Gegensatz zu sterblich – also bereits eine Dualitätshälfte. Erst wenn der Schleier der Maja völlig reißt, geht die Dualität zum Teufel. Dann ist man heimgekehrt, nicht mehr Objekt und Subjekt, sondern beides in einem, und alle Fragen sterben.«