Man bringt ihn ins Haus.»Es war zu erwarten«, sagt Georg zu Brüggemann.»Wie kam es?«
Brüggemann schüttelt den Kopf.»Keine Ahnung. Er hatte gerade eine Wette gegen einen Mann aus Münster gewonnen. Hatte einen Korn vom Spatenbräu und einen vom Restaurant Blume richtig geraten. Der Mann aus Münster hatte sie im Auto geholt. Ich war Vertrauensmann. Während nun der Mann aus Münster seine Brieftasche zückt, wird Knopf plötzlich schneeweiß und fängt an zu schwitzen. Gleich darauf liegt er schon auf der Erde und krümmt sich und kotzt und heult. Den Rest haben Sie ja gesehen. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Der Kerl aus Münster ist in der Aufregung durchgebrannt, ohne die Wette zu bezahlen. Und keiner kennt ihn, und wir haben uns auch in der Aufregung die Autonummer des Kerls nicht gemerkt.«
»Das ist natürlich grauenhaft«, sagt Georg.
»Wie man es nimmt. Schicksal möchte ich sagen.«
»Schicksal«, sage ich.»Wenn Sie etwas gegen Ihr Schicksal tun wollen, Herr Brüggemann, dann gehen Sie nicht über die Hakenstraße zurück. Die Witwe Konersmann kontrolliert dort den Verkehr mit einer starken Taschenlampe, die sie sich ausgeborgt hat, in der einen und einer Bierflasche als Waffe in der anderen Hand. Nicht wahr, Lisa?«
Lisa nickt lebhaft.»Es ist eine volle Bierflasche. Wenn sie an Ihrem Schädel zerspringt, haben Sie gleich etwas Kühlung.«
»Verdammt!«sagt Brüggemann.»Wie komme ich hier raus? Ist dies eine Sackgasse?«
»Zum Glück nein«, erwidere ich.»Sie können hinten herum durch die Gärten zur Bleibtreustraße entkommen. Ich rate Ihnen, bald aufzubrechen; es wird hell.«
Brüggemann entschwindet. Heinrich Kroll besichtigt den Obelisken auf Schäden und verschwindet ebenfalls.
»So ist der Mensch«, sagt Wilke etwas allgemein, nickt zu den Knopfschen Fenstern empor, zum Garten hinüber, durch den Brüggemann schleicht, und wandert die Treppe zu seiner Werkstatt wieder empor. Er scheint diese Nacht dort zu schlafen und nicht zu arbeiten.
»Haben Sie wieder eine spiritistische Blumen-Manifestation gehabt?«frage ich.
»Nein, aber ich habe Bücher darüber bestellt.«
Frau Kroll hat plötzlich bemerkt, daß sie ihre Zähne vergessen hat, und ist längst geflüchtet. Kurt Bach verschlingt Lisas nackte braune Schultern mit Kennerblicken, schiebt aber ab, als er keine Gegenliebe findet.
»Stirbt der Alte?«fragt Lisa.
»Wahrscheinlich«, erwidert Georg.»Es ist ein Wunder, daß er nicht schon lange tot ist.«
Der Arzt kommt aus dem Hause Knopf.»Was ist es?«fragt Georg.
»Die Leber. Er ist schon seit langem fällig. Ich glaube nicht, daß er es diesmal schafft. Alles kaputt. Ein, zwei Tage, dann wird es vorbei sein.«
Knopfs Frau erscheint.»Also keinen Tropfen Alkohol!«sagt der Arzt zu ihr.»Haben Sie sein Schlafzimmer kontrolliert?«
»Genau, Herr Doktor. Meine Töchter und ich. Wir haben noch zwei Flaschen von dem Teufelszeug gefunden. Hier!«
Sie holt die Flaschen, entkorkt sie und will sie auslaufen lassen.
»Halt«, sage ich.»Das ist nun nicht gerade nötig. Die Hauptsache ist, daß Knopf sie nicht kriegt, nicht wahr, Doktor?«
»Natürlich.«
Ein kräftiger Geruch nach gutem Korn verbreitet sich.
»Was soll ich denn damit im Hause machen?«klagt Frau Knopf.»Er findet sie überall. Er ist ein kolossaler Spürhund.«
»Die Sorge kann Ihnen abgenommen werden.«
Frau Knopf händigt dem Arzt und mir je eine Flasche aus. Der Arzt wirft mir einen Blick zu.»Was dem einen sein Verderben, ist dem andern seine Nachtigall«, sagt er und geht.
Frau Knopf schließt die Tür hinter sich. Nur noch Lisa, Georg und ich stehen draußen.»Der Arzt glaubt auch, daß er stirbt, was?«fragt Lisa.
Georg nickt. Sein purpurner Pyjama wirkt schwarz in der späten Nacht. Lisa fröstelt und bleibt stehen.»Servus«, sage ich und lasse sie allein.
Von oben sehe ich die Witwe Konersmann als Schatten vor ihrem Hause patrouillieren. Sie lauert immer noch auf Brüggemanu. Nach einer Weile höre ich, wie unten leise die Tür zugezogen wird. Ich starre in die Nacht und denke an Knopf und dann an Isabelle. Gerade als ich schläfrig werde, sehe ich die Witwe Konersmann die Straße kreuzen. Sie glaubt wahrscheinlich, daß Brüggemann sich versteckt habe, und leuchtet unsern Hof nach ihm ab. Vor mir am Fenster liegt immer noch das alte Regenrohr, mit dem ich Knopf einst erschreckt habe. Fast bereue ich es jetzt, aber dann erblicke ich den wandernden Lichtkreis auf dem Hof und kann nicht widerstehen. Vorsichtig beuge ich mich vor und hauche mit tiefer Stimme hinein:»Wer stört mich hier?«und füge einen Seufzer hinzu. Die Witwe Konersmann steht bocksteif. Dann zittert der Lichtkreis frenetisch über Hof und Denkmäler.»Gott sei auch deiner Seele gnädig -«, hauche ich. Ich hätte gern in Brüggemanns Tonart geredet, beherrsche mich aber – auf das, was ich bis jetzt gesagt habe, kann mich die Konersmann nicht verklagen, wenn sie rausfindet, was los ist.
Sie findet es nicht heraus. Sie schleicht an der Mauer entlang zur Straße und rast zu ihrer Haustür hinüber. Ich höre noch, daß sie einen Schluckauf bekommt, dann ist alles still.
XXI
Ich vertreibe vorsichtig den ehemaligen Briefträger Roth, einen kleinen Mann, dessen Amtsbezirk während des Krieges unser Stadtteil gewesen ist. Roth war ein empfindsamer Mensch und nahm es sich sehr zu Herzen, daß er damals so oft zum Unglücksboten werden mußte. In all den Jahren des Friedens hatte man ihm immer freudig entgegengesehen, wenn er Post brachte; im Kriege aber wurde er mehr und mehr eine Gestalt, die fast nurmehr Furcht einflößte. Er brachte die Einziehungsbefehle der Armee und die gefürchteten amtlichen Kuverts mit dem Inhalt:»Auf dem Felde der Ehre gefallen«, und je länger der Krieg dauerte, um so öfter brachte er sie, und sein Kommen weckte Jammer, Flüche und Tränen. Als er dann eines Tages sich selbst eines der gefürchteten Kuverts zustellen mußte und eine Woche später ein zweites, da war es aus mit ihm. Er wurde still und auf eine sanfte Weise verrückt und mußte von der Postverwaltung pensioniert werden. Damit war er, wie so viele andere, zum langsamen Hungertode während der Inflation verurteilt, da alle Pensionen immer viel zu spät aufgewertet wurden. Ein paar Bekannte nahmen sich des einsamen alten Mannes an, und ein paar Jahre nach dem Kriege begann er wieder auszugehen; doch sein Geist blieb verwirrt. Er glaubt, immer noch Briefträger zu sein, und geht mit einer alten Berufskappe umher, um den Leuten weiter Nachrichten zu bringen; aber nach all den Unglücksmeldungen will er jetzt gute bringen. Er sammelt alte Briefumschläge und Postkarten, wo er sie findet, und teilt sie dann aus als Nachrichten aus russischen Gefangenenlagern. Die Totgeglaubten seien noch am Leben, erklärt er dazu. Sie seien nicht gefallen. Bald kämen sie heim.
Ich betrachte die Karte, die er mir dieses Mal in die Hand gedrückt hat. Es ist eine uralte Drucksache mit der Aufforderung, an der Preußischen Kassenlotterie teilzunehmen; ein blödsinniger Witz heute, in der Inflation. Roth muß sie irgendwo aus einem Papierkorb gefischt haben; sie ist an einen Schlächter Sack gerichtet, der lange tot ist.»Danke vielmals«, sage ich.»Das ist eine rechte Freude!«
Roth nickt.»Sie kommen jetzt bald heim aus Rußland, unsere Soldaten.«
»Ja, natürlich.«
»Sie kommen alle heim. Es dauert nur etwas lange. Rußland ist so groß.«
»Ihre Söhne auch, hoffe ich.«
Roths verwaschene Augen beleben sich.»Ja, meine auch. Ich habe schon Nachricht.«
»Noch einmal vielen Dank«, sage ich.
Roth lächelt, ohne mich anzusehen, und geht weiter. Die Postverwaltung hat anfangs versucht, ihn von seinen Gängen abzuhalten, und sogar seine Einsperrung beantragt; doch die Leute haben sich widersetzt, und man läßt ihn jetzt in Ruhe. In einer rechtspolitischen Kneipe sind allerdings ein paar Stammgäste vor kurzem einmal auf die Idee gekommen, Roth mit Briefen, in denen unflätige Beschimpfungen standen, zu politischen Gegnern zu schicken – ebenso mit zweideutigen Briefen zu alleinstehenden Frauen. Sie fanden das zwerchfellerschütternd. Auch Heinrich Kroll fand, es sei kerniger, volkstümlicher Humor. Heinrich ist in der Kneipe, unter seinesgleichen, überhaupt ein ganz anderer Mann als bei uns; er gilt da sogar als Witzbold.