XVII
»Das süße Licht«, sagte Isabelle.»Warum wird es schwächer? Weil wir ermatten? Wir verlieren es jeden Abend. Wenn wir schlafen, ist die Welt fort. Wo sind wir dann? Kommt die Welt immer wieder, Rudolf?«
Wir stehen am Rande des Gartens und sehen durch das Gittertor in die Landschaft draußen. Der frühe Abend liegt auf den reifenden Feldern, die sich zu beiden Seiten der Kastanienallee bis zum Walde hinabziehen.
»Sie kommt immer wieder«, sage ich und füge vorsichtig hinzu:»Immer, Isabelle.«
»Und wir? Wir auch?«
Wir? denke ich. Wer weiß das? Jede Stunde gibt und nimmt und verändert. Aber ich sage es nicht. Ich will in kein Gespräch geraten, das plötzlich in einen Abgrund rutscht.
Von draußen kommen die Anstaltsinsassen zurück, die auf den Äckern gearbeitet haben. Sie kommen zurück wie müde Bauern, und auf ihren Schultern liegt das erste Abendrot.
»Wir auch«, sage ich.»Immer, Isabelle. Nichts, was da ist, kann verlorengehen. Nie.«
»Glaubst du das?«
»Es bleibt uns doch nichts anderes übrig, als es zu glauben.«
Sie dreht sich zu mir um. Sie ist außerordentlich schön an diesem frühen Abend mit dem ersten klaren Gold des Herbstes in der Luft.
»Sind wir sonst verloren?«flüstert sie.
Ich starre sie an.»Das weiß ich nicht«, sage ich schließlich. Verloren – was kann das alles heißen! So vieles!
»Sind wir sonst verloren, Rudolf?«
Ich schweige unschlüssig.»Ja«, sage ich dann.»Aber da erst beginnt das Leben, Isabelle.«
»Welches?«
»Unser eigenes. Da erst beginnt alles – der Mut, das große Mitleid, die Menschlichkeit, die Liebe und der tragische Regenbogen der Schönheit. Da, wo wir wissen, daß nichts bleibt.«
Ich sehe in ihr vom untergehenden Licht bestrahltes Gesicht. Einen Augenblick steht die Zeit still.
»Du und ich, wir bleiben auch nicht?«fragt sie.
»Nein, wir bleiben auch nicht«, erwidere ich und sehe an ihr vorbei in die Landschaft voll Blau und Rot und Ferne und Gold.
»Auch nicht, wenn wir uns lieben?«
»Auch nicht, wenn wir uns lieben«, sage ich und füge zögernd und vorsichtig hinzu:»Ich glaube, deshalb liebt man sich. Sonst könnte man sich vielleicht nicht lieben. Lieben ist etwas weitergeben zu wollen, das man nicht halten kann.«
»Was?«
Ich hebe die Schultern.»Dafür gibt es viele Namen. Unser Selbst vielleicht, um es zu retten. Oder unser Herz. Sagen wir: Unser Herz. Oder unsere Sehnsucht. Unser Herz.«
Die Leute von den Feldern sind herangekommen. Die Wärter öffnen die Tore. Plötzlich drängt sich seitlich von der Mauer, wo er versteckt hinter einem Baum gestanden haben muß, jemand rasch an uns vorbei, schiebt sich durch die Feldarbeiter und rennt hinaus. Einer der Wärter bemerkt ihn und läuft ziemlich gemächlich hinter ihm her; der zweite bleibt ruhig stehen und läßt die anderen Patienten weiter passieren. Dann schließt er das Tor ab. Unten sieht man den Ausbrecher laufen. Er ist viel schneller als der Wärter, der ihn verfolgt.»Glauben Sie, daß Ihr Kollege ihn in dem Tempo einholt?«frage ich den zweiten Wärter.
»Er wird schon mit ihm zurückkommen.«
»Es sieht nicht so aus.«
Der Wärter hebt die Schultern.»Es ist Guido Timpe. Er versucht jeden Monat mindestens einmal auszubrechen. Läuft immer bis zum Restaurant Forsthaus. Trinkt dort ein paar Biere. Wir finden ihn jedesmal da. Er läuft nie weiter und nie irgendwoanders hin. Just für die zwei, drei Biere. Er trinkt immer Dunkles.«
Er zwinkert mir zu.»Darum läuft mein Kollege nicht schneller. Er will ihn nur im Auge behalten, für den Fall eines Falles. Wir lassen Timpe immer soviel Zeit, daß er seine Biere verquetschen kann. Warum nicht? Nachher kommt er dann zurück wie ein Lamm.«
Isabelle hat nicht zugehört.»Wohin will er?«fragt sie jetzt.
»Er will Bier trinken«, sage ich.»Weiter nichts. Wer auch so ein Ziel haben könnte!«
Sie hört mich nicht. Sie sieht mich an.»Willst du auch weg?«
Ich schüttle den Kopf.
»Es gibt nichts, um wegzulaufen, Rudolf«, sagt sie.»Und nichts, um anzukommen. Alle Türen sind dieselben. Und dahinter -«
Sie stockt.»Was ist dahinter, Isabelle?«frage ich.
»Nichts. Es sind nur Türen. Es sind immer nur Türen, und nichts ist dahinter.«
Der Wärter schließt das Tor und zündet sich eine Pfeife an. Der würzige Geruch des billigen Knasters trifft mich und zaubert ein Bild hervor: ein einfaches Leben, ohne Probleme, mit einem braven Beruf, einer braven Frau, braven Kindern, einem braven Abdienen der Existenz und einem braven Tod – alles als selbstverständlich hingenommen, Tag, Feierabend und Nacht, ohne Frage, was dahinter sei. Eine scharfe Sehnsucht danach packt mich einen Augenblick, und etwas wie Neid. Dann sehe ich Isabelle. Sie steht am Tor, die Hände um die eisernen Stäbe des Gitters gelegt, den Kopf daran gepreßt, und blickt hinaus. Sie steht lange so. Das Licht wird immer voller und röter und goldener, die Wälder verlieren die blauen Schatten und werden schwarz, und der Himmel über uns ist apfelgrün und voll von rosa angestrahlten Segelbooten.
Endlich dreht sie sich um. Ihre Augen sehen in diesem Licht fast violett aus.
»Komm«, sagt sie und nimmt meinen Arm.
Wir gehen zurück. Sie lehnt sich an mich.»Du mußt mich nie verlassen.«
»Ich werde dich nie verlassen.«
»Nie«, sagt sie.»Nie ist so kurz.«
Der Weihrauch wirbelt aus den silbernen Kesseln der Meßdiener. Bodendiek dreht sich um, die Monstranz in seinen Händen. Die Schwestern knien in ihren schwarzen Trachten wie dunkle Häufchen Ergebung in den Bänken; die Köpfe sind gesenkt, die Hände klopfen an die verdeckten Brüste, die nie Brüste werden durften, die Kerzen brennen, und Gott ist in einer Hostie, von goldenen Strahlen umgeben, im Raum. Eine Frau steht auf, geht durch den Mittelgang nach vorn bis zur Kommunionbank und wirft sich dort auf den Boden. Die meisten Kranken starren regungslos auf das goldene Wunder. Isabelle ist nicht da. Sie hat sich geweigert, in die Kirche zu gehen. Früher ist sie gegangen; jetzt, seit einigen Tagen will sie nicht mehr. Sie hat es mir erklärt. Sie sagt, sie wolle den Blutigen nicht mehr sehen.
Zwei Schwestern heben die Kranke auf, die sich hingeworfen hat und mit den Händen den Boden schlägt. Ich spiele das Tantum ergo. Die weißen Gesichter der Irren heben sich mit einem Ruck der Orgel entgegen. Ich ziehe die Gamben und die Violinen. Die Schwestern singen.
Die weißen Spiralen des Weihrauches wirbeln. Bodendiek stellt die Monstranz zurück in das Tabernakel. Das Licht der Kerzen flackert über den Brokat seines Meßgewandes, auf das ein großes Kreuz gestickt ist, und weht aufwärts mit dem Rauch zu dem großen Kreuz, an dem blutüberströmt seit fast zweitausend Jahren der Heiland hängt. Ich spiele mechanisch weiter und denke an Isabelle und das, was sie gesagt hat, und dann an die Beschreibung der vorchristlichen Religionen, die ich gestern abend gelesen habe. Die Götter waren damals heiter in Griechenland, sie wandelten von Wolke zu Wolke, sie waren leicht schurkisch und immer treulos und wandelbar wie die Menschen, zu denen sie gehörten. Sie waren Verkörperungen und Übertreibungen des Lebens in seiner Fülle und Grausamkeit und Unbedenklichkeit und Schönheit. Isabelle hat recht: Der bleiche Mann über mir mit dem Bart und den blutigen Gliedern ist es nicht. Zweitausend Jahre, denke ich, zweitausend Jahre, und immer ist das Leben mit Lichtern, Brunstschreien, Tod und Verzückung um die Steinbauten gewirbelt, in denen die Abbilder des blassen Sterbenden aufgerichtet waren, düster, blutig, von Millionen von Bodendieks umgeben – und bleifarben ist der Schatten der Kirchen über den Ländern gewachsen und hat die Lebensfreude erdrosselt, er hat aus Eros, dem heiteren, eine heimliche, schmutzige, sündhafte Bettgeschichte gemacht und nichts vergeben, trotz aller Predigten über Liebe und Vergebung – denn wirklich vergeben heißt, den anderen zu bestätigen, wie er ist, nicht aber Buße zu verlangen und Gefolgschaft und Unterwerfung, bevor das Ego te absolvo ausgesprochen wird.