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»Nicht nötig. Sie können tun, was Sie wollen. Aber es ist gut zu wissen, daß ein Sinn mehr alle Schlüsse über den Haufen werfen würde. Tierischer Ernst schwindet davor dahin. Wie ist der Wein?«

»Gut. Wie ist es mit Fräulein Terhoven? Besser?«

»Schlechter. Ihre Mutter war hier – sie hat sie nicht erkannt.«

»Vielleicht hat sie es nicht gewollt.«

»Das ist fast dasselbe; sie hat sie nicht erkannt. Sie hat sie angeschrien, wegzugehen. Typischer Fall.«

»Warum?«

»Wollen Sie einen langen Vortrag über Schizophrenie, Elternkomplex, Flucht vor sich selbst und Schockwirkung hören?«

»Ja«, sage ich.»Heute ja.«

»Sie werden ihn nicht hören. Nur das Nötigste. Spaltpersönlichkeit ist gewöhnlich Flucht vor sich selbst.«

»Was ist man selbst?«

Wernicke sieht mich an.»Lassen wir das heute. Flucht in eine andere Persönlichkeit. Oder in mehrere. Meistens springt der Patient zwischendurch immer wieder für kurze oder längere Zeit in seine eigene zurück. Geneviéve nicht. Seit langem nicht mehr. Sie zum Beispiel kennen sie gar nicht so, wie sie wirklich ist.«

»Sie wirkt ganz vernünftig, so wie sie jetzt ist.«

Wernicke lacht.»Was ist Vernunft? Logisches Denken?«

Ich denke an die kommenden zwei neuen Sinne und antworte nicht.»Ist sie sehr krank?«frage ich.

»Nach unseren Begriffen, ja. Aber es gibt schnelle und oft überraschende Heilungen.«

»Heilungen – wovon?«

»Von ihrer Krankheit.«Wernicke zündet sich eine Zigarette an.

»Sie ist oft ganz glücklich. Warum lassen Sie sie nicht so, wie sie ist?«

»Weil ihre Mutter für die Behandlung zahlt«, erklärt Wernicke trocken.»Außerdem ist sie nicht glücklich.«

»Glauben Sie, daß sie glücklicher wäre, wenn sie gesund würde?«

»Wahrscheinlich nicht. Sie ist empfindlich, intelligent, anscheinend voll Phantasie und wohl erblich belastet. Eigenschaften, die nicht unbedingt glücklich machen. Wenn sie glücklich gewesen wäre, wäre sie kaum geflüchtet.«

»Warum läßt man sie denn nicht in Frieden?«

»Ja, warum nicht?«sagt Wernicke.»Das frage ich mich auch oft. Warum operiert man Kranke, von denen man weiß, daß die Operation doch nicht helfen wird? Wollen wir eine Liste der Warums aufstellen? Sie würde lang werden. Eines der Warums würde sein: Warum trinken Sie nicht Ihren Wein und halten endlich mal die Klappe? Und warum spüren Sie nicht die Nacht statt Ihr unausgewaschenes Gehirn? Warum reden Sie über das Leben, anstatt es zu fühlen?«

Er steht auf und dehnt sich.»Ich muß zur Nachtvisite zu den Geschlossenen. Wollen Sie mitkommen?«

»Ja.«

»Ziehen Sie einen weißen Kittel über. Ich nehme Sie mit in eine besondere Abteilung. Entweder kotzen Sie nachher, oder Sie sind fähig, Ihren Wein mit tiefer Dankbarkeit zu genießen.«

»Die Flasche ist leer.«

»Ich habe noch eine auf meiner Bude. Möglich, daß wir sie brauchen. Wissen Sie, was merkwürdig ist? Daß Sie für Ihre fünfundzwanzig Jahre schon eine erhebliche Menge Tod, Elend und menschliche Idiotie gesehen haben – und trotzdem nichts anderes daraus gelernt zu haben scheinen, als die dämlichsten Fragen zu stellen, die man sich denken kann. Aber das ist wohl der Lauf der Welt – wenn wir endlich wirklich was gelernt haben, sind wir zu alt, es anzuwenden – und so geht das weiter, Welle auf Welle, Generation auf Generation. Keine lernt das geringste von der anderen. Kommen Sie!«

Wir sitzen im Café Central – Georg, Willy und ich. Ich wollte heute nicht allein zu Hause bleiben. Wernicke hat mir eine Abteilung der Irrenanstalt gezeigt, die ich noch nicht kannte – die der Kriegsverletzten. Es sind die Kopfschüsse, die Verschütteten und die Zusammengebrochenen. Inmitten des milden Sommerabends stand diese Abteilung da wie ein finsterer Unterstand im Gesang der Nachtigallen ringsum. Der Krieg, der überall bereits fast vergessen ist, geht in diesen Räumen immer noch weiter. Die Explosionen der Granaten sind immer noch in diesen armen Ohren, die Augen spiegeln noch wie vor fünf Jahren das fassungslose Entsetzen, Bajonette bohren sich ohne Unterlaß weiter in weiche Bäuche, Tanks zermalmen jede Stunde schreiende Verwundete und pressen sie flach wie Flundern, das Donnern der Schlacht, das Krachen der Handgranaten, das Splittern der Schädel, das Röhren der Minen, das Ersticken in zusammenstürzenden Unterständen ist durch eine schreckliche schwarze Magie hier präserviert worden und tobt nun schweigend in diesem Pavillon zwischen Rosen und Sommer weiter. Befehle werden gegeben, und unhörbaren Befehlen wird gehorcht, die Betten sind Schützengräben und Unterstände, immer aufs neue werden sie verschüttet und ausgegraben, es wird gestorben und getötet, erwürgt und erstickt, Gas treibt durch die Räume, und Agonien von Angst lösen sich in Brüllen und Kriechen und entsetztem Röcheln und Weinen und oft nur in Kauern und Schweigen in einer Ecke, so klein geduckt wie nur möglich, das Gesicht zur Wand, fest angepreßt…

»Aufstehen!«brüllen plötzlich ein paar jugendliche Stimmen hinter uns. Eine Anzahl Gäste schnellt schneidig von den Tischen hoch. Die Cafékapelle spielt»Deutschland, Deutschland über alles«. Es ist das viertemal heute abend. Es ist nicht die Kapelle, die so nationalistisch ist; auch nicht der Wirt. Es ist eine Anzahl junger Radaubrüder, die sich wichtig machen wollen. Alle halbe Stunde geht einer zur Kapelle und bestellt die Nationalhymne. Er geht hin, als zöge er in die Schlacht. Die Kapelle wagt nicht, sich zu widersetzen, und so erklingt das Deutschlandlied anstatt der Ouvertüre zu»Dichter und Bauer«.»Aufstehen!«schallt es dann jedesmal von allen Seiten, denn beim Klang der Nationalhymne erhebt man sich von den Sitzen, besonders, wenn sie zwei Millionen Tote, einen verlorenen Krieg und die Inflation eingebracht hat.

»Aufstehen!«schreit mir ein etwa siebzehnjähriger Lümmel zu, der bei Ende des Krieges nicht mehr als zwölf Jahre alt gewesen sein kann.

»Leck mich am Arsch«, erwidere ich,»und geh zurück in die Schule.«

»Bolschewist!«schreit der Junge, der sicher noch nicht einmal weiß, was das ist.»Hier sind Bolschewisten, Kameraden!«

Es ist der Zweck dieser Flegel, Radau zu machen. Sie bestellen die Nationalhymne immer wieder, und immer wieder steht eine Anzahl Leute nicht auf, weil es ihnen zu dumm ist. Mit leuchtenden Augen stürzen die Schreihälse dann heran und suchen Streit. Irgendwo sitzen ein paar abgedankte Offiziere, dirigieren sie und fühlen sich patriotisch.

Ein Dutzend steht jetzt um unsern Tisch herum.»Aufstehen, oder es passiert was!«

»Was?«fragt Willy.

»Das werdet ihr bald sehen! Feiglinge! Vaterlandsverräter! Auf!«

»Geht vom Tisch weg«, sagt Georg ruhig.»Glaubt ihr, wir brauchen Befehle von Minderjährigen?«

Ein etwa dreißigjähriger Mann schiebt sich durch die Gesellschaft.»Haben Sie keinen Respekt vor Ihrer Nationalhymne?«

»Nicht in Kaffeehäusern, wenn damit Krach provoziert werden soll«, erwidert Georg.»Und nun lassen Sie uns mit Ihren Albernheiten in Ruhe!«

»Albernheiten? Sie nennen die heiligsten Gefühle eines Deutschen Albernheiten? Das werden Sie büßen müssen! Wo waren Sie im Kriege, Sie Drückeberger?«

»Im Schützengraben«, erwidert Georg.»Leider.«

»Das kann jeder sagen! Beweise!«

Willy steht auf. Er ist ein Riese. Die Musik schweigt gerade.»Beweise?«sagt Willy.»Hier!«Er lüftet ein Bein etwas an, dreht dem Frager leicht den Hintern zu, und ein Geräusch wie ein mittlerer Kanonenschuß erschallt.

»Das«, sagt Willy abschließend,»ist alles, was ich bei den Preußen gelernt habe. Vorher hatte ich nettere Manieren.«

Der Führer der Rotte ist unwillkürlich zurückgesprungen.»Sagten Sie nicht Feigling?«fragt Willy und grinst.»Sie scheinen selbst etwas schreckhaft zu sein!«

Der Wirt ist herangekommen mit drei stämmigen Kellnern.»Ruhe, meine Herrschaften, ich muß dringend bitten! Keine Auseinandersetzungen im Lokal!«

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