»Wir möchten eine Flasche Forster Jesuitengarten nach dem Essen«, sagt Georg würdig.
»Wieso nach dem Essen?«fragt Eduard mißtrauisch.»Was heißt das schon wieder?«
»Der Wein ist zu gut für das, was du als Essen in den letzten Wochen servierst«, erkläre ich.
Eduard schwillt an.»Auf Eßmarken vom vorigen Winter zu essen, für sechstausend lumpige Mark die Mahlzeit, und dann noch das Essen kritisieren – das geht zu weit! Man sollte die Polizei holen!«
»Hole sie! Noch ein Wort, und wir essen nur hier und trinken den Wein im Hotel Hohenzollern!«
Eduard wirkt, als müsse er platzen; aber er beherrscht sich, des Weines wegen.»Magengeschwüre«, murmelt er und entfernt sich eiligst.»Magengeschwüre habe ich gekriegt, euretwegen! Nur noch Milch darf ich trinken!«
Wir lassen uns nieder und sehen uns um. Ich spähe verstohlen und mit schlechtem Gewissen nach Gerda aus, sehe sie aber nicht. Dafür gewahre ich, munter und grinsend, eine vertraute Figur, die mitten durch den Saal auf uns los steuert.»Siehst du, was ich sehe?«frage ich Georg.
»Riesenfeld! Schon wieder hier! Nur wer die Sehnsucht kennt-«
Riesenfeld begrüßt uns.»Sie kommen gerade zur rechten Zeit, sich zu bedanken«, sagt Georg zu ihm.»Unser junger Idealist dort hat sich gestern für Sie duelliert. Amerikanisches Duell, Messer gegen Marmorbrocken.«
»Was?«Riesenfeld setzt sich und ruft nach einem Glas Bier.»Wieso?«
»Herr Watzek, der Mann der Dame Lisa, die Sie mit Blumen und Pralines verfolgen, hat angenommen, daß diese Sachen von meinem Kameraden drüben kämen, und ihm dafür mit einem langen Messer aufgelauert.«
»Verletzt?«fragt Riesenfeld kurz und mustert mich.
»Nur seine Schuhsohle«, sagt Georg.»Watzek ist leicht verletzt.«
»Lügt ihr wieder einmal?«
»Dieses Mal nicht.«
Ich sehe Georg mit Bewunderung an. Seine Frechheit geht weit. Aber Riesenfeld ist nicht leicht zu schlagen.
»Er muß weg!«entscheidet er, wie ein römischer Kaiser.
»Wer?«frage ich.»Watzek?«
»Sie!«
»Ich? Warum nicht Sie? Oder Sie beide?«
»Watzek wird wieder kämpfen. Sie sind ein natürliches Opfer. Auf uns verfällt er nicht. Wir haben Glatzen. Also müssen Sie weg. Verstanden?«
»Nein«, sage ich.
»Wollten Sie nicht sowieso weg?«
»Nicht Lisas wegen.«
»Ich habe gesagt sowieso«, erklärt Riesenfeld.»Wollten Sie nicht ins wilde Leben einer großen Stadt?«
»Als was? Man wird in großen Städten nicht umsonst gefüttert.«
»Als Zeitungsangestellter in Berlin. Sie werden da im Anfang nicht viel verdienen, aber genug, daß Sie knapp leben können. Dann können Sie weitersehen.«
»Was?«sage ich atemlos.
»Sie haben mich doch ein paarmal gefragt, ob ich nichts wüßte für Sie! Nun, Riesenfeld hat seine Beziehungen. Ich weiß etwas für Sie. Kam deswegen vorbei. Am ersten Januar vierundzwanzig können Sie anfangen. Ein kleiner Posten, aber in Berlin. Gemacht?«
»Halt!«sagt Georg.»Er hat fünfjährige Kündigung.«
»Dann läuft er eben weg, ohne zu kündigen. Erledigt?«
»Wieviel verdient er?«fragt Georg.
»Zweihundert Mark«, erwidert Riesenfeld ruhig.
»Ich dachte mir doch, daß es falscher Zauber wäre«, sage ich.
»Macht es Ihnen Spaß, Leute zum besten zu halten? Zweihundert Mark! Gibt es so eine lächerliche Summe überhaupt noch?«
»Es gibt sie wieder«, sagt Riesenfeld.
»Ja?«frage ich.»Wo? In Neuseeland?«
»In Deutschland! Roggenmark. Nichts davon gehört?«Georg und ich sehen uns an. Es hat Gerüchte darüber gegeben, daß eine neue Währung geschaffen werden solle. Eine Mark soll dabei soviel wert sein wie ein bestimmtes Quantum Roggen; aber es hat in diesen Jahren so viele Gerüchte gegeben, das keiner es geglaubt hat.
»Diesmal ist es wahr«, erklärt Riesenfeld.»Ich habe es aus bester Quelle. Aus der Roggenmark wird dann eine Goldmark. Die Regierung steht dahinter.«
»Die Regierung! Die ist doch an der ganzen Abwertung schuld!«
»Mag sein. Aber jetzt ist es soweit. Sie hat keine Schulden mehr. Eine Billion Inflationsmark wird eine Goldmark werden.«
»Und die Goldmark wird dann wieder ’runtergehen, was? So geht der Tanz noch einmal los.«
Riesenfeld trinkt sein Bier aus.»Wollen Sie oder wollen Sie nicht?«fragt er.
Das Lokal scheint plötzlich sehr still zu sein.»Ja«, sage ich. Es ist, als sage es jemand neben mir. Ich traue mich nicht, Georg anzusehen.
»Das ist vernünftig«, erklärt Riesenfeld.
Ich blicke auf das Tischtuch. Es scheint zu schwimmen. Dann höre ich, wie Georg sagt:»Kellner, bringen Sie die Flasche Forster Jesuitengarten sofort.«
Ich blicke auf.»Du hast uns doch das Leben gerettet«, sagt er.»Deshalb!«
»Uns? Wieso uns?«fragt Riesenfeld.
»Ein Leben wird nie allein gerettet«, erwidert Georg geistesgegenwärtig.»Es ist immer mit ein paar anderen verbunden.«
Der Augenblick ist vorbei. Ich sehe Georg dankbar an. Ich habe ihn verraten, weil ich ihn verraten mußte, und er hat es verstanden. Er bleibt zurück.»Du besuchst mich«, sage ich.»Dann mache ich dich mit den großen Damen und Filmschauspielerinnen Berlins bekannt.«
»Kinder, das sind Pläne«, sagt Riesenfeld zu mir.»Wo bleibt der Wein? Ich habe Ihnen ja soeben das Leben gerettet.«
»Wer rettet hier eigentlich wen?«frage ich.»Jeder einmal irgend-einen«, sagt Georg.»Genau, wie er immer einmal irgendeinen tötet. Auch, wenn er es nicht weiß.«
Der Wein steht auf dem Tisch. Eduard erscheint. Er ist blaß und verstört.»Gebt mir auch ein Glas.«
»Verschwinde!«sage ich.»Schmarotzer! Wir können unsern Wein allein trinken.«
»Nicht deswegen. Die Flasche geht auf mich. Ich zahle sie. Aber gebt mir ein Glas. Ich muß etwas trinken.«
»Du willst die Flasche spendieren? Überlege, was du sagst!«
»Ich meine es.«Eduard setzt sich.»Valentin ist tot«, erklärt er.
»Valentin? Was ist ihm denn passiert?«
»Herzschlag. Habe es gerade am Telefon gehört.«
Er greift nach einem Glas.»Und du willst darauf trinken, du Lump?«sage ich empört.»Weil du ihn los bist?«
»Ich schwöre euch, nein! Nicht deshalb! Er hat mir doch das Leben gerettet.«
»Was«, sagt Riesenfeld.»Ihnen auch?«
»Natürlich mir, wem sonst?«
»Was ist hier los?«fragt Riesenfeld.»Sind wir ein Klub von Lebensrettern?«
»Es liegt an der Zeit«, erwidert Georg.»Es ist in diesen Jahren vielen gerettet worden. Und vielen nicht.«
Ich starre Eduard an. Er hat tatsächlich Tränen in den Augen; aber was weiß man bei ihm?»Ich glaube dir nicht«, sage ich.»Du hast ihm das an den Hals gewünscht! Ich habe es zu oft gehört. Du wolltest deinen verdammten Wein sparen.«
»Ich schwöre euch, nein! Ich habe es manchmal so gesagt, wie man etwas sagt. Aber doch nicht im Ernst!«Die Tropfen in Eduards Augen werden dicker.»Er hat mir ja tatsächlich das Leben gerettet.«
Riesenfeld steht auf.»Ich habe jetzt genug von diesem Lebensretter-Quatsch! Sind Sie nachmittags im Büro? Gut!«
»Schicken Sie keine Blumen mehr, Riesenfeld«, warnt Georg.
Riesenfeld winkt ab und verschwindet mit einem undefinierbaren Gesicht.
»Laßt uns ein Glas auf Valentin trinken«, sagt Eduard. Seine Lippen zittern.»Wer hätte das gedacht! Durch den ganzen Krieg ist er gekommen, und jetzt auf einmal liegt er da, von einer Sekunde zur anderen.«
»Wenn du schon sentimental sein willst, dann sei es richtig«, erwidere ich.»Hole eine Flasche von dem Wein, den du ihm nie gegönnt hast.«
»Den Johannisberger, jawohl.«Eduard erhebt sich eifrig und watschelt davon.
»Ich glaube, er ist ehrlich traurig«, sagt Georg.
»Ehrlich traurig und ehrlich erleichtert.«
»Das meine ich. Mehr kann man meistens nicht verlangen.«
Wir sitzen eine Weile.»Es passiert eigentlich etwas viel im Augenblick, was?«sage ich schließlich.
Georg sieht mich an.»Prost! Einmal mußt du ja gehen. Und Valentin? Er hat ein paar Jahre länger gelebt, als man 1917 hätte vermuten sollen.«