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Ich trenne sie ab und lege die Papierstückchen auf den Tisch.»Wer hier der Schuft war, steht sehr zur Debatte, du verhinderter Don Juan«, sage ich.

Eduard nimmt die Marken nicht selbst auf.»Freidank«, sagt er, diesmal tonlos vor Wut.»Werfen Sie diese Fetzen in den Papierkorb.«

»Halt«, sage ich und greife nach dem Menü.»Wenn wir schon zahlen, haben wir noch das Recht auf ein Dessert. Was möchtest du, Gerda? Rote Grütze oder Kompott?«

»Was empfehlen Sie, Herr Knobloch?«fragt Gerda, die nicht weiß, was für ein Drama in Eduard vorgegangen ist.

Eduard macht eine verzweifelte Geste und geht ab.»Also Kompott!«rufe ich ihm nach.

Er zuckt kurz und geht dann weiter, als schliche er über Eier. Jede Sekunde erwartet er die Kasernenhofstimme.

Ich überlege, verzichte aber dann darauf, als noch wirksamere Taktik.»Was ist auf einmal hier los?«fragt die ahnungslose Gerda.

»Nichts«, erwidere ich unschuldig und teile das Hühnerskelett zwischen uns auf.»Lediglich ein kleines Muster für die These des großen Clausewitz über Strategie: Greife den Gegner an, wenn er glaubt, gesiegt zu haben, und dann da, wo er es am wenigsten vermutet.«

Gerda nickt verständnislos und ißt ihr Kompott, das Freidank respektlos vor uns hinschmeißt. Ich sehe ihr gedankenvoll zu und beschließe, sie nie wieder in das»Walhalla«zu führen und von nun an dem eisernen Gesetz Georgs zu folgen: Zeige einer Frau nichts Neues, dann will sie auch nicht dahin und läuft dir nicht weg.

Es ist Nacht. Ich lehne in meiner Bude am Fenster. Der Mond scheint, der schwere Geruch des Flieders weht aus den Gärten, und ich bin vor einer Stunde aus dem Altstädter Hof nach Hause gekommen. Ein verliebtes Paar huscht die Straßenseite entlang, die im Mondschatten liegt, und verschwindet in unserm Garten. Ich tue nichts dagegen; wer selbst nicht dürstet, ist friedfertig, und die Nächte sind jetzt unwiderstehlich. Damit nichts passiert, habe ich allerdings vor einer Stunde an die beiden kostbaren Kreuzdenkmäler ein Schild gehängt mit der Aufschrift:»Achtung! Kann umfallen! Zerschmettert die Zehen!«Aus irgendwelchen Gründen bevorzugen nämlich die Liebenden die Kreuze, wenn der Boden zu feucht ist; wahrscheinlich, weil sie sich besser daran festhalten können, obschon man glauben könnte, daß mittlere Hügelsteine ebenso vorteilhaft wären. Ich hatte den Gedanken, ein zweites Schild mit einer Empfehlung dafür aufzuhängen, habe es aber nicht getan. Frau Kroll ist manchmal früh auf, und sie würde mich, bei aller Toleranz, ohrfeigen wegen Frivolität, bevor ich ihr erklären könnte, daß ich vor dem Kriege ein prüder Mensch war – eine Eigenschaft, die mir bei der Verteidigung unseres geliebten Vaterlandes abhanden gekommen ist.

Plötzlich sehe ich eine quadratische Gestalt schwarz durch den Mondschein heranstampfen. Ich erstarre. Es ist der Roßschlächter Watzek. Er verschwindet in seiner Wohnung, zwei Stunden zu früh. Vielleicht sind ihm die Gäule ausgegangen; Pferdefleisch ist heute ein sehr beliebter Artikel. Ich beobachte die Fenster. Sie werden hell, und Watzeks Schatten spukt umher. Ich überlege, ob ich Georg Kroll Bescheid sagen soll; aber es ist ein undankbares Geschäft, Liebende zu stören, und außerdem kann es sein, daß Watzek, ohne nachzudenken, schlafen geht. Das scheint aber nicht so zu werden. Der Schlächter öffnet das Fenster und starrt rechts und links die Straße entlang. Ich höre ihn schnaufen. Er schließt die Läden, und nach einer Weile erscheint er vor der Tür, einen Stuhl in der Hand, sein Fleischermesser im Stiefelschaft. Er setzt sich auf den Stuhl, und es sieht aus, als ob er auf Lisas Rückkehr warten will. Ich schaue auf die Uhr; es ist halb zwölf. Die Nacht ist warm, und Watzek kann es Stunden draußen aushalten. Lisa dagegen ist schon ziemlich lange bei Georg; das heisere Fauchen der Liebe ist bereits verstummt, und wenn sie dem Schlächter in die Arme läuft, wird sie zwar eine glaubhafte Erklärung finden, und er wird wahrscheinlich darauf hereinfallen – aber besser ist es doch, wenn das nicht passiert.

Ich schleiche hinunter und klopfe den Anfang des Hohenfriedberger Marsches an Georgs Tür. Sein kahler Kopf erscheint. Ich berichte, was los ist.»Verdammt«, sagte er.»Sieh zu, daß du ihn dort wegbringst.«

»Um diese Zeit?«

»Versuch es! Laß deinen Charme spielen.«

Ich schlendere nach draußen, gähne, bleibe stehen und wandere dann zu Watzek hinüber.»Schöner Abend«, sage ich.

»Schöner Abend, Scheiße«, erwidert Watzek.

»Das auch«, gebe ich zu.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagt Watzek plötzlich scharf.

»Was?«

»Was? Sie wissen das doch genau! Die Schweinerei! Was sonst?«

»Schweinerei?«frage ich alarmiert.»Wieso?«

»Na, was sonst? Finden Sie das etwa nicht?«

Ich blicke auf das Messer im Stiefel und sehe Georg bereits mit durchschnittener Kehle zwischen den Denkmälern liegen. Lisa natürlich nicht; das ist die alte Idiotie des Mannes.»Wie man es nimmt«, sage ich diplomatisch. Ich verstehe nicht ganz, weshalb Watzek nicht längst in Georgs Fenster geklettert ist. Es liegt im Parterre und ist offen.

»Das alles wird bald anders werden«, erklärt Watzek grimmig.»Blut wird fließen. Die Schuldigen werden büßen.«

Ich sehe ihn an. Er hat lange Arme an seinem gedrungenen Körper und sieht überaus kräftig aus. Ich könnte ihm mit dem Knie gegen das Kinn stoßen und ihm dann, wenn er hochtaumelt, einen zweiten Stoß zwischen die Beine versetzen – oder aber, wenn er losrennt, kann ich ihm ein Bein stellen und seinen Schädel ein paarmal gründlich aufs Pflaster schlagen. Das würde im Augenblick genügen – aber was später?

»Haben Sie ihn gehört?«fragt Watzek.

»Wen?«

»Sie wissen doch! Ihn! Wen sonst? Es gibt doch nur einen!«

Ich lausche. Ich habe nichts gehört. Die Straße ist still. Georgs Fenster ist jetzt vorsichtig zugezogen worden.

»Wen soll ich gehört haben?«frage ich laut, um Zeit zu gewinnen und den andern ein Zeichen zu geben, damit Lisa in den Garten verschwindet.

»Mensch, ihn! Den Führer! Adolf Hitler!«

»Adolf Hitler!«wiederhole ich erlöst.»Den?«

»Was, den?«fragt Watzek herausfordernd.»Sind Sie nicht für ihn?«

»Und wie! Gerade jetzt! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr!«

»Warum haben Sie ihn dann nicht gehört?«

»Er war doch nicht hier.«

»Er war am Radio. Wir haben ihn auf dem Schlachthof gehört. Sechsröhrenapparat. Er wird alles ändern! Wunderbare Rede! Der Mann weiß, was los ist. Alles muß anders werden!«

»Das ist klar«, sage ich. In dem einen Satz steckt das gesamte Rüstzeug aller Demagogen der Welt.»Alles muß anders werden! Wie wäre es mit einem Bier?«

»Bier? Wo?«

»Bei Blume, um die Ecke.«

»Ich warte auf meine Frau.«

»Auf die können Sie bei Blume auch warten. Worüber hat Hitler gesprochen? Ich möchte das gerne genau wissen. Mein Radio ist kaputt.«

»Über alles«, sagt der Schlächter und erhebt sich.»Der Mann weiß alles! Alles, sage ich Ihnen, Kamerad!«

Er stellt den Stuhl in den Hausflur, und wir wandern einträchtig dem Dortmunder Bier in der Gartenwirtschaft Blume entgegen.

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