»Das ist immer so im Leben. Wo warst du?«
»In der Bahnstraße. Im Bordell.«
»Was ist daran Neues?«frage ich, ohne recht hinzuhören.
»Wir waren alle zusammen dort, wir haben für dich bezahlt, und du bist ausgerissen. Sollen wir dir dafür ein Standbild setzen?«
»Ich war noch einmal dort«, sagt Otto.»Allein. Hör doch endlich einmal zu!«
»Wann?«
»Nach dem Abend in der Roten Mühle.«
»Na, und?«frage ich lustlos.»Bist du wieder vor den Tatsachen des Lebens geflüchtet?«
»Nein«, erklärt Otto.»Dieses Mal nicht.«
»Alle Achtung! War es das Eiserne Pferd?«
Bambuss errötet.»Das ist doch egal.«
»Gut«, sage ich.»Wozu redest du denn darüber? Es ist keine einzigartige Erfahrung. Ziemlich viele Leute in der Welt schlafen mit Frauen.«
»Du verstehst mich nicht. Es sind die Folgen.«
»Was für Folgen? Ich bin überzeugt, daß das Eiserne Pferd nicht krank ist. Man bildet sich so etwas immer leicht ein, besonders im Anfang.«
Otto macht ein gequältes Gesicht.»So meine ich das nicht! Du kannst dir doch denken, weshalb ich es getan habe. Es ging alles ganz gut mit meinen beiden Zyklen, besonders mit dem „Weib in Scharlach“, aber ich dachte, ich brauchte noch mehr Inspiration. Ich wollte den Zyklus beenden, bevor ich aufs Dorf zurück muß. Deshalb ging ich noch einmal in die Bahnstraße. Dieses Mal richtig. Und stell dir vor, seitdem: nichts! Nicht eine Zeile. Es ist wie abgeschnitten! Das Gegenteil sollte doch der Fall sein.«
Ich lache, obschon mir nicht danach zumute ist.»Das ist aber verdammtes Künstlerpech!«
»Du kannst gut lachen«, sagt Bambuss aufgeregt.»Aber ich sitze da! Elf Sonette tadellos fertig, und beim zwölften dieses Unglück! Es geht einfach nicht mehr! Die Phantasie setzt aus! Schluß! Fertig!«
»Es ist der Fluch der Erfüllung«, sagt Hungermann, der herangekommen ist und anscheinend die Sache schon kennt.»Sie läßt nichts übrig. Ein hungriger Mann träumt vom Fressen. Einem satten ist es zuwider.«
»Er wird wieder hungrig werden, und die Träume werden wiederkommen«, erwidere ich.
»Bei dir; nicht bei Otto«, erklät Hungermann sehr zufrieden.
»Du bist oberflächlich und normal, Otto ist tief. Er hat einen Komplex durch einen anderen ersetzt. Lach nicht – es ist vielleicht sein Ende als Schriftsteller. Es ist, könnte man sagen, ein Begräbnis im Freudenhaus.«
»Ich bin leer«, sagt Otto verloren.»So leer wie noch nie. Ich habe mich ruiniert. Wo sind meine Träume? Erfüllung ist der Feind der Sehnsucht. Ich hätte das wissen sollen!«
»Schreib was darüber«, sage ich.
»Keine schlechte Idee!«Hungermann zieht sein Notizbuch hervor.»Ich hatte sie übrigens zuerst. Es ist auch nichts für Otto; sein Stil ist dazu nicht hart genug.«
»Er kann es als Elegie schreiben. Oder als Lament. Kosmische Trauer, Sterne tropfen wie goldene Tränen, Gott selbst schluchzt, weil er die Welt so verpfuscht hat, Herbstwind harft ein Requiem dazu -«
Hungermann schreibt eifrig.»Welch ein Zufall«, sagt er zwischendurch.»Genau dasselbe mit fast denselben Worten habe ich vor einer Woche gesagt. Meine Frau ist Zeuge.«
Otto hat leicht die Ohren gespitzt.»Dazu kommt noch die Angst, daß ich mir was geholt habe«, sagt er.»Wie lange dauert es, bis man es erkennen kann?«
»Bei Tripper drei Tage, bei Lues vier Wochen«, erwidert der Ehemann Hungermann prompt.
»Du wirst dir nichts geholt haben«, sage ich.»Sonette kriegen keine Lues. Aber du kannst die Stimmung ausnutzen. Wirf das Steuer herum! Wenn du nicht dafür schreiben kannst, schreibe dagegen! Anstatt einer Hymne auf das Weib in Scharlach und Purpur eine ätzende Klage. Eiter träuft aus den Sternen, in Geschwüren liegt Hiob, anscheinend der erste Syphilitiker, auf den Scherben des Weltalls, das Janusgesicht der Liebe, süßes Lächeln auf der einen, eine zerfressene Nase auf der anderen Seite -«
Ich sehe, daß Hungermann wieder schreibt.»Hast du das auch deiner Frau vor einer Woche erzählt?«frage ich.
Er nickt strahlend.
»Weshalb schreibst du es dann auf?«
»Weil ich es wieder vergessen hatte. Kleinere Einfälle vergesse ich oft.«
»Ihr habt es leicht, euch über mich lustig zu machen«, sagt Bambuss gekränkt.»Ich kann doch gar nicht gegen etwas schreiben. Ich bin Hymniker.«
»Schreib eine Hymne dagegen.«
»Hymnen kann man nur auf etwas schreiben«, belehrt mich Otto.»Nicht dagegen.«
»Dann schreib Hymnen auf die Tugend, die Reinheit, das mönchische Leben, die Einsamkeit, die Versenkung in das Nächste und Fernste, was es gibt: das eigene Selbst.«
Otto horcht einen Augenblick mit schrägem Kopf wie ein Jagdhund.» Hab‘ ich schon«, sagt er dann niedergeschlagen.»Es ist auch nicht ganz meine Art.«
»Zum Teufel mit deiner Art! Mach nicht so viele Ansprüche!«
Ich stehe auf und gehe in den Nebenraum. Valentin Busch sitzt dort.»Komm«, sagt er.»Trink mit mir eine Flasche Johannisberger. Das wird Eduard ärgern.«
»Ich will heute keinen Menschen ärgern«, erwidere ich.
Als ich auf die Straße komme, steht Otto Bambuss schon da und starrt schmerzlich auf die Gipswalküren, die den Eingang des»Walhalla«zieren.»So etwas«, sagt er ziellos.
»Weine nicht«, erkläre ich, um ihn mir vom Halse zu schaffen.»Du gehörst offenbar zu den Frühvollendeten, Kleist, Bürger, Rimbaud, Büchner – den schönsten Gestalten im Dichterhimmel -, nimm es dir also nicht zu Herzen.«
»Aber die sind doch auch früh gestorben!«
»Du kannst das auch noch, wenn du willst. Rimbaud hat übrigens noch viele Jahre gelebt, nachdem er aufhörte zu schreiben. Als Abenteurer in Abessinien. Wie wäre das?«
Otto sieht mich an wie ein Reh mit drei Beinen. Dann starrt er wieder auf die dicken Hintern und Brüste der Gipswalküren.»Hör zu«, sage ich ungeduldig.»Schreib doch einen Zyklus:,Die Versuchungen des heiligen Antonius! Da hast du beides, Lust und Entsagung, und noch einen Haufen nebenbei.«
Ottos Gesicht belebt sich. Gleich darauf wird es konzentriert, soweit das bei einem Astralschaf mit sinnlichen Ambitionen möglich ist. Die deutsche Literatur scheint für den Augenblick gerettet zu sein, denn ich bin ihm bereits bedeutend gleichgültiger. Abwesend winkt er mir zu und strebt die Straße hinab, dem heimatlichen Schreibtisch zu. Neidisch sehe ich ihm nach.
Das Büro liegt in schwarzem Frieden. Ich knipse das Licht an und finde einen Zettel:»Riesenfeld abgereist. Du bist also heute abend dienstfrei. Benütze die Zeit zum Knöpfeputzen, Gehirnappell, Nägelschneiden und Gebet für Kaiser und Reich, gez. Kroll, Feldwebel und Mensch. PS.: Wer schläft, sündigt auch.«
Ich gehe hinauf zu meiner Bude. Das Klavier bleckt mich mit weißen Zähnen an. Kalt starren die Bücher der Toten von den Wänden. Ich werfe eine Garbe von Septimen-Akkorden über die Straße. Lisas Fenster öffnet sich. Sie steht vor dem warmen Licht in einem Frisiermantel, der offen hängt, und hält ein Wagenrad von einem Blumenstrauß hoch.»Von Riesenfeld«, krächzt sie.»Was für ein Idiot! Kannst du das Gemüse brauchen?«
Ich schüttle den Kopf. Isabelle würde glauben, ihre Feinde beabsichtigen damit irgend etwas Niederträchtiges, und Gerda habe ich so lange nicht gesehen, daß auch sie es falsch auffassen würde. Sonst weiß ich niemand.
»Tatsächlich nicht?«fragt Lisa.
»Tatsächlich nicht.«
»Unglücksrabe! Aber sei froh! Ich glaube, du wirst erwachsen!«
»Wann ist man erwachsen?«
Lisa überlegt einen Augenblick.»Wenn man mehr an sich denkt als an die anderen«, krächzt sie dann und schmettert das Fenster zu.
Ich werfe eine zweite Garbe von Septimenakkorden, diesmal von verminderten, aus dem Fenster. Sie haben keine sichtbaren Folgen. Ich schließe dem Klavier den Rachen und wandere die Treppen hinunter. Bei Wilke ist noch Licht. Ich klettere zu ihm hinauf.
»Wie ist die Sache mit den Zwillingen ausgegangen?«frage ich.
»Tiptop. Die Mutter hat gesiegt. Die Zwillinge sind in ihrem Doppelsarg beerdigt worden. Allerdings auf dem Stadtfriedhof, nicht auf dem katholischen. Komisch, daß die Mutter auf dem katholischen zuerst ein Grab gekauft hat – sie hätte doch wissen müssen, daß es da nicht ging, wenn einer der Zwillinge evangelisch war. Nun hat sie das erste Grab an der Hand.«