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»Blödsinn!«poltert Heinrich aufgebracht.»Sie Kommunist!«

Georg bricht in ein wildes Gelächter aus.»Für Heinrich ist jeder ein Kommunist, der nicht stramm rechts ist.«

Heinrich wölbt die Brust zu einer geharnischten Antwort. Das Bild seines Kaisers hat ihn stark gemacht. In diesem Augenblick tritt Kurt Bach ein.»Herr Kroll«, fragt er,»soll der Engel rechts oder links vom Text: „Hier ruht Spenglermeister Quartz“ stehen?«

»Was?«

»Der Engel im Relief auf dem Grabstein Quartz.«

»Rechts natürlich«, sagt Georg.»Engel stehen immer rechts.«

Heinrich wird aus einem nationalen Propheten wieder ein Grabsteinverkäufer.»Ich komme mit Ihnen«, erklärt er mißmutig und legt das Goldstück zurück auf den Tisch. Kurt Bach sieht es und greift danach.»Das waren Zeiten«, sagt er schwärmerisch.

»Für Sie also auch«, erwidert Georg.»Was für Zeiten waren es denn für Sie?«

»Die Zeiten der freien Kunst! Brot kostete Pfennige, ein Schnaps einen Fünfer, das Leben war voller Ideale, und mit ein paar solcher Goldfüchse konnte man ins gelobte Land Italia reisen, ohne Furcht, daß sie bei der Ankunft nichts mehr wert seien.«

Bach küßt den Adler, legt ihn zurück und wird wieder zehn Jahre älter. Heinrich und er entschwinden. Heinrich ruft zum Abschied, düstere Drohung auf seinem verfetteten Gesicht:»Köpfe werden noch rollen!«

»Was war das?«frage ich Georg erstaunt.»Ist das nicht eine der vertrauten Phrasen Watzeks? Stehen wir etwa vor einer Verbrüderung der feindlichen Cousins?«

Georg sieht nachdenklich hinter Heinrich her.»Vielleicht«, sagt er.»Dann wird es gefährlich. Weißt du, was so hoffnungslos ist? Heinrich war 1918 ein rabiater Kriegsgegner. Inzwischen hat er alles vergessen, was ihn dazu machte, und der Krieg ist für ihn wieder ein frischfröhliches Abenteuer geworden.«Er steckt das Zwanzigmarkstück in die Westentasche.»Alles wird zum Abenteuer, was man überlebt. Das ist so zum Kotzen! Und je schrecklicher es war, um so abenteuerlicher wird es in der Erinnerung. Wirklich über den Krieg könnten nur die Toten urteilen; sie allein haben ihn ganz erlebt.«

Er sieht mich an.»Erlebt?«sage ich,»erstorben.«

»Sie und die, die das nicht vergessen«, erwidert er.»Aber das sind wenige. Unser verdammtes Gedächtnis ist ein Sieb. Es will überleben. Und überleben kann man nur durch Vergessen.«

Er setzt seinen Hut auf.»Komm«, sagt er.»Wir wollen sehen, was für Zeiten unser goldener Vogel in Eduard Knoblochs Gedächtnis hervorruft.«

»Isabelle!«sage ich tief erstaunt.

Ich sehe sie auf der Terrasse vor dem Pavillon für die Unheilbaren sitzen. Nichts ist mehr da von der zuckenden, gequälten Kreatur, die ich das letztemal gesehen habe. Ihre Augen sind klar, ihr Gesicht ist ruhig, und sie scheint mir schöner, als ich sie je vorher gekannt habe – aber das kann auch durch den Gegensatz zum letzten Mal kommen.

Es hat nachmittags geregnet, und der Garten blinkt von Feuchtigkeit und Sonne. Über der Stadt schwimmen Wolken vor einem reinen, mittelalterlichen Blau, und ganze Fensterfronten sind in Spiegelgalerien verwandelt. Isabelle trägt ein Abendkleid, unbekümmert um die Zeit, aus einem sehr weichen schwarzen Stoff, und ihre goldenen Schuhe. Am rechten Arm hängt eine Kette aus Smaragden – sie muß mehr wert sein als unsere gesamte Firma, einschließlich des Lagers, der Häuser und des Einkommens der nächsten fünf Jahre. Sie hat sie vorher noch nie getragen. Es ist ein Tag der Kostbarkeiten, denke ich. Zuerst der goldene Wilhelm II., und jetzt dieses! Aber die Kette rührt mich nicht.

»Hörst du sie?«fragt Isabelle.»Sie haben getrunken, tief und viel, und nun sind sie ruhig und satt und zufrieden. Sie summen tief, wie Millionen Bienen.«

»Wer?«

»Die Bäume und all die Büsche. Hast du sie gestern nicht schreien gehört, als es so trocken war?«

»Können sie schreien?«

»Natürlich. Kannst du das nicht hören?«

»Nein«, sage ich und sehe auf das Armband, das funkelt, als hätte es grüne Augen.

Isabelle lacht.»Ach, Rudolf, du hörst so wenig!«sagt sie zärtlich.»Deine Ohren sind zugewachsen wie Buchsbaumgebüsch. Und dann machst du auch so viel Lärm – deshalb hörst du nichts.«

»Ich mache Lärm? Wieso?«

»Nicht mit Worten. Aber sonst machst du einen furchtbaren Lärm, Rudolf. Oft bist du kaum zu ertragen. Du machst mehr Lärm als die Hortensien, wenn sie durstig sind, und das sind doch wahrhaftig mächtige Schreier.«

»Was macht denn Lärm bei mir?«

»Alles. Deine Wünsche. Dein Herz. Deine Unzufriedenheit. Deine Eitelkeit. Deine Unentschlossenheit -«

»Eitelkeit?«sage ich.»Ich bin nicht eitel.«

»Natürlich -«

»Ausgeschlossen!«erwidere ich und weiß, daß es nicht stimmt, was ich sage.

Isabelle küßt mich rasch.»Mach mich nicht müde, Rudolf! Du bist immer so genau mit Namen. Du heißt auch eigentlich nicht Rudolf, wie? Wie heißt du denn?«

»Ludwig«, sage ich überrascht. Es ist das erstemal, daß sie mich danach fragt.

»Ja, Ludwig. Bist du deines Namens niemals müde?«

»Das schon. Meiner selber auch.«

Sie nickt, als wäre das das Selbstverständlichste der Welt.

»Dann wechsle ihn doch. Warum willst du nicht Rudolf sein? Oder jemand anders. Reise doch weg. Geh in ein anderes Land. Jeder Name ist eines.«

»Ich heiße nun einmal Ludwig. Was ist da zu ändern? Jeder weiß es hier.«

Sie scheint mich nicht gehört zu haben.»Ich werde auch bald weggehen«, sagt sie.»Ich fühle es. Ich bin müde und meiner Müdigkeit müde. Es ist alles schon etwas leer und voll Abschied und Schwermut und Warten.«

Ich sehe sie an und spüre plötzlich eine jähe Angst. Was mag sie meinen?»Ändert sich nicht jeder immerfort?«frage ich.

Sie blickt zur Stadt hinüber.»Das meine ich nicht, Rudolf. Ich glaube, es gibt noch ein anderes Ändern. Ein größeres. Eines, das wie Sterben ist. Ich glaube, es ist Sterben.«

Sie schüttelt den Kopf, ohne mich anzusehen.»Es riecht überall danach«, flüstert sie.»Auch in den Bäumen und im Nebel. Es tropft nachts vom Himmel. Die Schatten sind voll davon. Und in den Gelenken ist die Müdigkeit. Sie hat sich hineingeschlichen. Ich gehe nicht mehr gern, Rudolf. Es war schön mit dir, auch wenn du mich nicht verstanden hast. Du warst doch wenigstens da. Sonst wäre ich ganz allein gewesen.«

Ich weiß nicht, was sie meint. Es ist ein sonderbarer Augenblick. Alles ist auf einmal sehr still, kein Blatt regt sich, nur Isabelles Hand mit den langen Fingern schwingt über den Rand des Korbsessels, und leise klirrt das Armband mit den grünen Steinen. Die untergehende Sonne gibt ihrem Gesicht eine Farbe von solcher Wärme, daß es der Gegensatz von jedem Gedanken an Sterben ist – aber trotzdem ist mir, als breite sich wirklich eine Kühle aus wie eine lautlose Furcht, als könnte es sein, daß Isabelle nicht mehr da wäre, wenn der Wind wieder beginnt – aber dann weht er plötzlich in den Kronen, er rauscht, der Spuk ist vorbei, und Isabelle richtet sich auf und lächelt.»Es gibt viele Wege, zu sterben«, sagt sie.»Armer Rudolf! Du kennst nur einen. Glücklicher Rudolf! Komm, laß uns ins Haus gehen.«

»Ich liebe dich sehr«, sage ich.

Sie lächelt stärker.»Nenne es, wie du willst. Was ist der Wind und was ist die Stille? So verschieden sind sie und doch beide dasselbe. Ich bin eine Weile auf den bunten Pferden des Karussells geritten und habe in den goldenen Gondeln mit blauem Samt gesessen, die sich nicht nur drehen, sondern auch noch auf und nieder schweben. Du liebst sie nicht, wie?«

»Nein. Ich habe früher lieber auf den lackierten Hirschen und Löwen gesessen. Aber mit dir würde ich auch in Gondeln fahren.«

Sie küßt mich.»Die Musik!«sagt sie leise.»Und das Licht der Karussells im Nebel! Wo ist unsere Jugend geblieben, Rudolf?«

»Ja, wo?«sage ich und spüre plötzlich Tränen hinter meinen Augen und begreife nicht, warum.»Haben wir eine gehabt?«

»Wer weiß das?«

Isabelle steht auf. Über uns im Laub raschelt es. Im glühenden Licht der späten Sonne sehe ich, daß ein Vogel mir auf das Jackett geschissen hat. Ungefähr dahin, wo das Herz ist. Isabelle sieht es und biegt sich vor Lachen. Ich tupfe mit meinem Taschentuch die Losung des sarkastischen Buchfinken fort.»Du bist meine Jugend«, sage ich.»Ich weiß es jetzt. Du bist alles, was dazugehört. Das eine und das andere und noch vieles mehr. Auch das, daß man erst weiß, was es war, wenn es einem entgleitet.«

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