Draußen kommt der Tischler Wilke über den Hof.»Wie wäre es mit einer Sitzung heute abend?«ruft er durchs Fenster.
Ich nicke. Ich habe schon erwartet, daß er das vorschlagen würde.»Kommt Bach auch?«frage ich.
»Klar. Ich hole gerade Zigaretten für ihn.«
Wir sitzen in der Werkstatt Wilkes zwischen Hobelspänen, Särgen, Blumentöpfen mit Geranien und Leimtöpfen. Es riecht nach Harz und frischgeschnittenem Tannenholz. Wilke hobelt den Deckel des Zwillingssarges zurecht. Er hat sich entschlossen, eine Blumengirlande umsonst dreinzugeben, sogar vergoldet, mit Blattgoldersatz. Wenn er interessiert ist, ist der Verdienst ihm gleichgültig. Und hier ist er interessiert.
Kurt Bach sitzt auf einem schwarzlackierten Sarg mit falschen Bronzebeschlägen; ich auf einem Prachtstück aus Natureiche, matt gebeizt. Wir haben Bier, Wurst, Brot, Käse und sind entschlossen, mit Wilke die Geisterstunde zu überstehen. Der Sargtischler wird nämlich gewöhnlich zwischen zwölf und ein Uhr nachts melancholisch, schläfrig und ängstlich. Es ist seine schwache Stunde. Man sollte es nicht glauben, aber er fürchtet sich dann vor Gespenstern, und der Kanarienvogel, den er in einem Papageienkäfig über seiner Hobelbank hängen hat, ist um diese Zeit nicht genug Gesellschaft für ihn. Er ist dann verzagt, spricht von der Zwecklosigkeit des Daseins und greift zum Schnaps. Wir haben ihn schon öfter morgens besoffen auf einem Bett von Hobelspänen schnarchend in seinem größten Sarg gefunden, mit dem er vor vier Jahren elend hereingefallen ist. Der Sarg war für den Riesen vom Zirkus Bleichfeld angefertigt worden, der plötzlich bei einem Gastspiel in Werdenbrück nach einer Mahlzeit von Limburger Käse, harten Eiern, Mettwurst, Kommißbrot und Schnaps gestorben war – scheinbar gestorben, denn während Wilke die Nacht durch, allen Gespenstern zum Trotz, an dem Sarg für den Riesen schuftete, hatte der sich plötzlich mit einem Seufzer vom Totenbett erhoben und anstatt, wie es anständig gewesen wäre, Wilke auf der Stelle zu verständigen, eine halbe Flasche Korn ausgesoffen, die noch übriggeblieben war, und sich schlafen gelegt. Am nächsten Morgen behauptete er, kein Geld zu haben und außerdem keinen Sarg für sich bestellt zu haben, ein Einwand, gegen den nichts zu machen war. Der Zirkus zog weiter, und da niemand den Sarg bestellt haben wollte, blieb Wilke damit sitzen und bekam dadurch für einige Zeit eine etwas bittere Weltanschauung. Besonders ärgerlich war er auf den jungen Arzt Wüllmann, den er für alles verantwortlich machte. Wüllmann hatte zwei Jahre als Feldunterarzt gedient und war dadurch abenteuerlich geworden. Er hatte so viele halbtote und dreivierteltote Muschkoten im Lazarett zur Behandlung gehabt, ohne daß ihn irgend jemand für ihren Tod oder ihre schiefgeheilten Knochen verantwortlich machte, daß er zum Schluß einen Haufen interessante Erfahrungen sammeln konnte. Deshalb war er nachts noch einmal zu dem Riesen geschlichen und hatte ihm irgendeine Spritze verabreicht – er hatte öfters im Lazarett gesehen, daß Tote wieder erwacht waren -, und der Riese war auch prompt wieder ins Leben zurückgewandert. Wilke hatte seitdem, ohne daß er es wollte, eine gewisse Abneigung gegen Wüllmann, die dieser später auch nicht dadurch aus der Welt schaffen konnte, daß er sich wie ein vernünftiger Arzt benahm und die Hinterbliebenen seiner Fälle zu Wilke schickte. Für Wilke war der Sarg des Riesen eine ständige Mahnung, nicht zu leichtgläubig zu sein, und ich glaube, das war auch der Grund, warum er mit der Zwillingsmutter in ihre Wohnung gegangen ist – er wollte sich selbst davon überzeugen, daß die Toten inzwischen nicht schon wieder auf Holzpferden herumritten. Es wäre für Wilkes Selbstachtung zuviel gewesen, neben dem unverkäuflichen Riesensarg auch noch mit dem quadratischen Zwillingssarg hängenzubleiben und so eine Art Barnum in der Zunft der Sargtischler darzustellen. Am meisten hatte ihn bei der Sache mit Wüllmann geärgert, daß er keine Gelegenheit gehabt hatte, mit dem Riesen ein längeres Privatgespräch zu führen. Er hätte ihm alles vergeben, wenn er mit ihm ein Interview über das Jenseits hätte haben können. Der Riese war schließlich einige Stunden lang so gut wie tot gewesen, und Wilke, als Amateurwissenschaftler und Gespensterfürchter, hätte viel darum gegeben, Auskunft über das Dasein auf der anderen Seite zu erhalten.
Kurt Bach ist für all das nicht zu haben. Der Sohn der Natur ist immer noch Mitglied der Freireligiösen Gemeinde Berlin, deren Wahlspruch ist:»Macht hier das Leben gut und schön, kein Jenseits gibt’s, kein Wiedersehn.«Es ist sonderbar, daß er trotzdem ein Bildhauer fürs Jenseits, mit Engeln, sterbenden Löwen und Adlern geworden ist, aber das war ja nicht immer seine Absicht. Als er jünger war, hielt er sich für eine Art Neffen von Michelangelo.
Der Kanarienvogel singt. Das Licht hält ihn wach. Wilkes Hobel macht ein zischendes Geräusch. Die Nacht steht vor dem offenen Fenster.»Wie fühlen Sie sich?«frage ich Wilke.»Klopft das Jenseits bereits?«
»Halb und halb. Es ist ja erst halb zwölf. Um die Zeit fühle ich mich, als ginge ich spazieren mit einem Vollbart in einem ausgeschnittenen Damenkleid. Unbehaglich.«
»Werden Sie Monist«, schlägt Kurt Bach vor.»Wenn man an nichts glaubt, fühlt man sich nie besonders schlecht. Auch nicht lächerlich.«
»Auch nicht gut«, sagt Wilke.
»Mag sein. Aber bestimmt nicht so, als hätte man einen Vollbart und trüge ein ausgeschnittenes Damenkleid. So fühle ich mich nur, wenn ich nachts aus dem Fenster sehe, und da ist der Himmel mit den Sternen und den Millionen Lichtjahren, und ich soll glauben, daß über all dem eine Art Übermensch sitzt, dem es wichtig sein soll, was aus Kurt Bach wird.«
Der Sohn der Natur schneidet sich behaglich ein Stück Wurst ab und verzehrt es. Wilke wird nervöser. Die Mitternacht ist schon zu nahe, und um diese Zeit liebt er solche Gespräche nicht.»Kalt, was?«sagt er.»Schon Herbst.«
»Lassen Sie das Fenster nur ruhig offen«, erwidere ich, als er es schließlich will.»Es nützt Ihnen nichts, Geister gehen durch Glas. Blicken Sie lieber auf die Akazie draußen! Sie ist die Lisa Watzek der Akazien. Hören Sie, wie der Wind in ihr rauscht! Wie ein Walzer in den seidenen Unterröcken einer jungen Frau. Eines Tages aber wird sie gefällt werden, und Sie werden Särge daraus machen -«
»Nicht aus Akazienholz. Särge macht man aus Eiche, Tanne, Mahagoni furniert -«
»Gut, gut, Wilke! Ist noch etwas Schnaps da?«
Kurt Bach reicht mir die Flasche herüber. Wilke zuckt plötzlich zusammen und hobelt sich fast einen Finger ab.
»Was war das?«fragt er erschreckt.
Ein Käfer ist gegen die Lampe geflogen.»Ruhig Blut, Alfred«, sage ich.»Keine Botschaft aus dem Jenseits. Lediglich ein schlichtes Drama der Tierwelt. Ein Mistkäfer, der zur Sonne strebt – verkörpert für ihn in einer Hundertwattbirne im Hinterhaus der Hakenstraße drei.«
Es ist eine Verabredung, daß wir von kurz vor Mitternacht bis zum Ende der Geisterstunde Wilke duzen. Er fühlt sich dadurch geschützter. Nach ein Uhr sind wir wieder formell.
»Ich verstehe nicht, wie man ohne Religion leben kann«, sagt Wilke zu Kurt Bach.»Was macht man da, wenn man nachts im Dunkeln aufwacht bei einem Gewitter?«
»Im Sommer?«
»Natürlich, im Sommer. Im Winter gibt’s keine Gewitter.«
»Man trinkt etwas Kaltes«, erwidert Kurt Bach.»Dann schläft man weiter.«
Wilke schüttelt den Kopf. Er wird um die Geisterstunde nicht nur ängstlich, sondern auch sehr religiös.
»Ich kannte jemand, der beim Gewitter ins Bordell ging«, sage ich.»Es zwang ihn direkt dazu. Er war sonst impotent; nur bei Gewitter änderte sich das. Eine Gewitterwolke sehen und zum Telefon greifen, um eine Reservation bei Fritzi zu machen, war eins für ihn. Der Sommer 1920 war sein schönstes Lebensjahr; da wimmelte es von Gewittern. Manchmal vier, fünf am Tage.«
»Was macht er jetzt?«fragt Wilke, der Amateur-Wissenschaftler, interessiert.