»Er ist tot«, sage ich.»Gestorben während der letzten großen Gewitter im Oktober 1920.«
Der Nachtwind wirft eine Tür im Hause gegenüber zu. Von den Türmen schlagen die Glocken. Es ist Mitternacht. Wilke kippt einen Schnaps herunter.
»Wie wäre es jetzt mit einem Spaziergang zum Friedhof?«fragt der manchmal etwas gefühlsrohe Gottesleugner Bach.
Wilkes Schnurrbart bebt vor Entsetzen im Winde, der durchs Fenster weht.»Und so was nennt man nun Freunde!«sagt er vorwurfsvoll. Gleich darauf erschrickt er wieder.»Was war das?«
»Ein Liebespaar, draußen. Mach jetzt eine Pause im Hobeln, Alfred. Iß! Gespenster lieben keine Menschen, die essen. Hast du keine Sprotten hier?«
Alfred wirft mir den Blick eines Hundes zu, den man tritt, während er gerade dem Ruf der Natur folgt.»Mußt du mich daran jetzt erinnern? An mein elendes Liebesleben und die Einsamkeit eines Mannes im besten Alter?«
»Du bist ein Opfer deines Berufs«, sage ich.»Nicht jeder kann das von sich sagen. Komm zum Souper! So nennt man diese Mahlzeit in der eleganten Welt.«
Wir greifen zu Wurst und Käse und öffnen die Bierflaschen. Der Kanarienvogel bekommt ein Salatblatt und bricht in Lebensjubel aus, ohne zu wissen, ob er Atheist ist oder nicht. Kurt Bach hebt das erdfarbene Gesicht und schnuppert.»Es riecht nach Sternen«, erklärt er.
»Was?«Wilke setzt seine Flasche in die Hobelspäne.»Was soll denn das nun wieder?«
»Um Mitternacht riecht die Welt nach Sternen.«
»Laß doch die Witze! Wie kann jemand nur leben wollen, wenn er an nichts glaubt und dann noch so redet?«
»Willst du mich bekehren?«fragt Kurt Bach.»Du Erbschleicher des Himmels?«
»Nein, nein! Oder ja, meinetwegen. Hat da nicht was geraschelt?«
»Ja«, sagt Kurt.»Die Liebe.«
Wir hören draußen wieder ein behutsames Schleichen. Ein zweites Liebespaar verschwindet im Denkmalswald. Man sieht den weißen Fleck des wandernden Mädchenkleides.
»Warum sehen eigentlich die Menschen so anders aus, wenn sie tot sind?«fragt Wilke.»Sogar Zwillinge.«
»Weil sie nicht mehr entstellt sind«, erwidert Kurt Bach. Wilke hält im Kauen inne.»Wieso denn das?«
»Vom Leben«, sagt der Monist.
Wilke klappt den Schnurrbart herunter und kaut weiter.»Um diese Zeit könntet ihr doch wohl mit dem Blödsinn aufhören! Ist euch denn nichts heilig?«
Kurt Bach lacht lautlos.»Du arme Ranke! Immer mußt du was haben, um dich dran festzuhalten.«
»Und du?«
»Ich auch.«Die Augen in dem Gesicht aus Lehm glänzen, als wären sie aus Glas. Der Sohn der Natur ist gewöhnlich verschlossen und nichts anderes als ein gescheiterter Bildhauer mit gescheiterten Träumen; aber manchmal brechen die Urbilder dieser Träume aus ihm heraus, so wie sie vor zwanzig Jahren waren, und dann ist er auf einmal ein verspäteter Faun mit Visionen.
Auf dem Hof knistert und flüstert und schleicht es wieder.»Vor vierzehn Tagen gab es draußen mal einen Streit«, sagt Wilke.»Ein Schlosser hatte vergessen, seine Werkzeuge aus der Tasche zu nehmen, und während des stürmischen Aktes müssen sie sich so unglücklich verlagert haben, daß die Dame plötzlich von einer spitzen Ahle gestochen wurde. Sie mit einem Sprung auf, ergreift einen kleinen Bronzekranz, schlägt ihn dem Mechaniker über den Schädel – haben Sie denn das nicht gehört?«fragt er mich.
»Nein.«
»Haut ihm also den Bronzekranz so über die Ohren, daß er ihn nicht herunterkriegen kann. Ich mache Licht, frage, was los ist. Der Kerl, voll Angst, galoppiert los, den Bronzekranz wie ein römischer Staatsmann um den Schädel – habt ihr denn den Bronzekranz nicht vermißt?«
»Nein.«
»So was!«Er also raus, als wenn ein Wespenschwarm hinter ihm wäre. Ich runter. Das Fräulein steht noch da, sieht auf ihre Hand.»Blut!«sagt sie.»Er hat mich gestochen! Und das in einem solchen Moment!«
Ich sehe am Boden die Ahle und reime mir zusammen, was passiert ist. Ich hebe die Ahle auf.»Das kann Blutvergiftung geben«, sage ich.»Sehr gefährlich! Einen Finger kann man abbinden; einen Hintern nicht. Selbst nicht einen so reizenden.«Sie errötet -
»Wie konntest du das im Dunkeln sehen?«fragt Kurt Bach. -»Es war Mond.«
»Bei Mond sieht man Erröten auch nicht.«
»Man fühlt es«, erklärt Wilke.»Sie errötet also, hält aber ihr Kleid immer weg vom Körper. Sie trug ein helles Kleid, und Blut macht Flecken, die schwer zu entfernen sind, deshalb.»Ich habe Jod und Heftpflaster«, sage ich.»Und ich bin diskret. Kommen Sie!«Sie kommt und erschrickt nicht einmal.«Wilke wendet sich mir zu.»Das ist das Schöne an eurem Hof«, sagt er begeistert.»Wer zwischen Denkmälern liebt, hat auch keine Angst vor Särgen. So kam es, daß nach Jod und Pflaster und einem Schluck Portwein-Verschnitt der Sarg des Riesen doch noch einen Zweck erfüllte.«
»Er wurde zur Liebeslaube?«frage ich, um sicher zu sein.
»Der Kavalier genießt und schweigt«, erwidert Wilke.
In diesem Augenblick tritt der Mond zwischen den Wolken hervor. Weiß leuchtet unten der Marmor, schwarz schimmern die Kreuze, und verstreut dazwischen sehen wir vier Liebespaare, zwei im Marmorlager, zwei im Granit. Einen Augenblick ist alles still und erstarrt in Überraschung – es gibt jetzt nur die Flucht oder das völlige Ignorieren der veränderten Situation. Flucht ist nicht so ungefährlich; man entkommt zwar im Augenblick, holt sich dafür aber einen solchen neurotischen Schock, daß er zur Impotenz führen kann. Ich weiß das von einem Gefreiten, der einmal von einem Vizefeldwebel der Pioniere im Wald mit einer Köchin überrascht wurde – er war erledigt fürs Leben, und seine Frau ließ sich zwei Jahre später von ihm scheiden.
Die Liebespaare tun das Richtige. Wie sichernde Hirsche werfen sie die Köpfe herum – dann, die Augen auf das einzige erleuchtete Fenster gerichtet, unseres, das ja auch schon vorher da war, verharren sie, als hätte Kurt Bach sie ausgehauen. Es ist ein Bild der Unschuld, höchstens etwas lächerlich, auch wie bei Bachs Skulpturen. Gleich darauf wischt ein Wolkenschatten den Mond so hinweg, daß dieser Teil des Gartens dunkel ist und nur der Obelisk noch Licht hat. Aber wer steht dort, ein glitzernder Springbrunnen? Der pissende Knopf, wie die Statue in Brüssel, die jeder Soldat kennt, der in Belgien Urlaub hatte.
Es ist zu weit, um etwas zu tun. Ich fühle mich heute auch nicht so. Wozu soll ich wie eine Hausfrau reagieren? Ich habe heute nachmittag beschlossen, diesen Platz zu verlassen, und darum strömt mir das Leben jetzt doppelt stark zu, ich fühle es überall, im Geruch der Hobelspäne und im Mond, im Huschen und Rascheln im Hof und in dem unsäglichen Wort September, in meinen Händen, die sich bewegen und es fassen können, und in meinen Augen, ohne die alle Museen der Welt leer wären, in Geistern, Gespenstern, Vergänglichkeit und der wilden Jagd der Erde vorbei an Cassiopeia und den Plejaden, in der Ahnung von endlosen fremden Gärten unter fremden Sternen, von Stellungen in großen fremden Zeitungen und von Rubinen, die jetzt in der Erde zu rotem Leuchten zusammenwachsen, ich fühle es, und das verhindert mich, eine leere Bierflasche in die Richtung der Dreißigsekundenfontäne Knopf zu werfen -
In diesem Augenblick schlagen die Uhren. Es ist eins. Die Geisterstunde ist vorüber, wir können zu Wilke wieder Sie sagen und uns entweder weiterbetrinken, oder in den Schlaf hinabsteigen wie in ein Bergwerk, in dem es Kohle, Leichen, weiße Salzpaläste und begrabene Diamanten gibt.