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Wir sitzen in einem kleinen Zimmer in der Nähe des großen Saales für die freien Kranken. Es ist kein eigentliches Eßzimmer; Bücherregale stehen darin, ein Topf mit weißen Geranien, ein paar Stühle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein geschickt, und wir warten auf das Essen. Ich hätte vor zehn Jahren nie geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein zu trinken – aber ich hätte damals auch nie geglaubt, daß ich einmal Menschen töten und dafür nicht aufgehängt, sondern dekoriert werden würde, und trotzdem ist es so gekommen.

Bodendiek probiert den Wein.»Ein Schloß Reinhardshausener von der Domäne des Prinzen Heinrich von Preußen«, erklärt er andächtig.»Die Oberin hat uns da etwas sehr Gutes geschickt. Verstehen Sie was von Wein?«

»Wenig«, sage ich.

»Sie sollten es lernen. Speise und Trank sind Gaben Gottes. Man soll sie genießen und verstehen.«

»Der Tod ist sicher auch eine Gabe Gottes«, erwidere ich und blicke durch das Fenster in den dunklen Garten. Es ist windig geworden, und die schwarzen Kronen der Bäume schwanken.»Soll man den auch genießen und verstehen?«

Bodendiek sieht mich über den Rand seines Weinglases belustigt an.»Für einen Christen ist der Tod kein Problem. Er braucht ihn nicht gerade zu genießen; aber verstehen kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der Eingang zum ewigen Leben. Da ist nichts zu fürchten. Und für viele ist er eine Erlösung.«

»Warum?«

»Eine Erlösung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend.«Bodendiek nimmt einen genießerischen Schluck und läßt ihn hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.

»Ich weiß«, sage ich.»Die Erlösung vom irdischen Jammertal. Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?«

Bodendiek sieht im Augenblick nicht so aus, als könne er das Jammertal nicht ertragen. Er ist rund und voll und hat die Schöße seines Priesterrocks über die Lehne des Stuhls gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kräftigen Hinterns. So sitzt er da, der Kenner des Jenseits und des Weines, das Glas fest in der Hand.

»Wozu hat Gott eigentlich das irdische Jammertal geschaffen?«wiederhole ich.»Hätte er uns nicht gleich im ewigen Leben lassen können?«

Bodendiek hebt die Schultern.»Sie können das in der Bibel nachlesen. Der Mensch, das Paradies, der Sündenfall -«

»Der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradiese, die Erbsünde und damit der Fluch über hunderttausend Generationen. Der Gott der längsten Rache, die es je gegeben hat.«

»Der Gott der Vergebung«, erwidert Bodendiek und hält den Wein gegen das Licht.»Der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit, der immer wieder bereit ist, zu vergeben, und der seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die Menschheit zu erlösen.«

»Herr Vikar Bodendiek«, sagte ich, plötzlich sehr wütend.»Weshalb hat der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit eigentlich die Menschen so verschieden erschaffen? Warum den einen elend und krank und den andern gesund und gemein?«

»Wer hier erniedrigt wird, wird im Jenseits erhöht. Gott ist die ausgleichende Gerechtigkeit.«

»Ich bin nicht so sicher«, erwidere ich.»Ich kannte eine Frau, die zehn Jahre Krebs hatte, die sechs fürchterliche Operationen hinter sich brachte, die nie ohne Schmerzen war und die schließlich an Gott verzweifelte, als zwei ihrer Kinder starben. Sie ging nicht mehr zur Messe, zur Beichte und zur Kommunion, und nach den Regeln der Kirche starb sie im Stande der Todsünde. Nach denselben Regeln brennt sie jetzt für alle Ewigkeit in der Hölle, die der Gott der Liebe geschaffen hat. Das ist gerecht, nicht wahr?«

Bodendiek sieht eine Zeitlang in den Wein.»Ist es Ihre Mutter?«fragt er dann.

Ich starre ihn an.»Was hat das damit zu tun?«

»Es ist Ihre Mutter, nicht wahr?«

Ich schlucke.»Und wenn es meine Mutter wäre -«

Er schweigt.»Es genügt eine einzige Sekunde, um sich mit Gott zu versöhnen«, sagt er dann behutsam.»Eine Sekunde vor dem Tode. Ein einziger Gedanke. Er braucht nicht einmal ausgesprochen zu werden.«

»Das habe ich vor ein paar Tagen einer verzweifelten Frau auch gesagt. Aber wenn der Gedanke nicht da war?«

Bodendiek sieht mich an.»Die Kirche hat Regeln. Sie hat Regeln, um zu verhüten und zu erziehen. Gott hat keine. Gott ist die Liebe. Wer von uns kann wissen, wie er richtet?«

»Richtet er?«

»Wir nennen es so. Es ist Liebe.«

»Liebe«, sage ich bitter.»Eine Liebe, die voll Sadismus ist. Eine Liebe, die quält und elend macht und die entsetzliche Ungerechtigkeit der Welt mit dem Versprechen eines imaginären Himmels zu korrigieren glaubt.«

Bodendiek lächelt.»Glauben Sie nicht, daß vor Ihnen schon andere Leute darüber nachgedacht haben?«

»Ja, unzählige. Und klügere als ich.«

»Das glaube ich auch«, erwidert Bodendiek gemütlich.

»Das ändert nichts daran, daß ich es nicht auch tue.«

»Bestimmt nicht.«Bodendiek schenkt sein Glas voll.»Tun Sie es nur gründlich. Zweifel ist die Kehrseite des Glaubens.«

Ich sehe ihn an. Er sitzt da, ein Turm der Festigkeit, und nichts kann ihn erschüttern. Hinter seinem kräftigen Kopf steht die Nacht, die unruhige Nacht Isabelles, die weht und gegen das Fenster stößt und endlos und voller Fragen ohne Antwort ist. Bodendiek aber hat auf alles eine Antwort.

Die Tür öffnet sich. Auf einer großen Platte erscheint das Essen, in runden Schüsseln, die aufeinandergestellt sind. Eine paßt in die andere, es ist die Art, wie in Hospitälern serviert wird. Die Küchenschwester breitet ein Tuch über den Tisch, legt Messer, Löffel und Gabeln darauf und verschwindet.

Bodendiek lüftet die obere Schüssel.»Was haben wir denn heute nacht? Bouillon«, sagt er zärtlich.»Bouillon mit Markklößchen. Erstklassig! Und Rotkohl mit Sauerbraten. Eine Offenbarung!«

Er schöpft die Teller voll und beginnt zu essen. Ich ärgere mich darüber, mit ihm disputiert zu haben, und fühle, daß er klar überlegen ist, obschon es nichts mit dem Problem zu tun hat. Er ist überlegen, weil er nichts sucht. Er weiß. Aber was weiß er schon? Beweisen kann er nichts. Trotzdem kann er mit mir spielen, wie er will.

Der Arzt kommt herein. Es ist nicht der Direktor; es ist der behandelnde Arzt.»Essen Sie mit uns?«fragt Bodendiek.»Dann müssen Sie sich dazuhalten. Wir lassen sonst nichts übrig.«

Der Arzt schüttelt den Kopf.»Ich habe keine Zeit. Es gibt ein Gewitter. Da sind die Kranken immer besonders unruhig.«

»Es sieht nicht nach einem Gewitter aus.«

»Noch nicht. Aber es wird kommen. Die Kranken fühlen das voraus. Wir, mußten schon ein paar ins Dauerbad legen. Es wird eine schwierige Nacht werden.«

Bodendiek verteilt den Sauerbraten zwischen uns. Er nimmt sich die größere Portion.»Gut, Doktor«, sagt er.

»Aber trinken Sie wenigstens ein Glas Wein mit uns. Es ist ein Fünfzehner. Eine Gabe Gottes! Sogar für unseren jungen Heiden hier.«

Er zwinkert mir zu, und ich möchte ihm gern meine Sauerbratensauce in seinen leicht speckigen Kragen schütten. Der Doktor setzt sich zu uns und nimmt das Glas an. Die bleiche Schwester steckt den Kopf durch die Tür.

»Ich esse jetzt nicht, Schwester«, sagt der Doktor.»Stellen Sie mir ein paar belegte Brote und eine Flasche Bier in mein Zimmer.«

Er ist ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, dunkel, mit einem schmalen Gesicht, dicht zusammenstehenden Augen und großen, abstehenden Ohren. Er heißt Wernicke, Guido Wernicke, und haßt seinen Vornamen so, wie ich»Rolf«hasse.

»Wie steht’s mit Fräulein Terhoven?«frage ich.

»Terhoven? Ach so – nicht so besonders, leider. Haben Sie nichts bemerkt heute? Eine Änderung?«

»Nein. Sie war so wie immer. Vielleicht etwas erregter; aber Sie sagten ja, das käme vom Gewitter.«

»Wir werden sehen. Man kann nie viel voraussagen hier oben.«

Bodendiek lacht.»Das sicher nicht. Hier nicht.«

Ich sehe ihn an. Was für ein roher Christ, denke ich. Aber dann fällt mir ein, daß er ja berufsmäßiger Seelenpfleger ist; dabei geht immer etwas an Empfindung auf Kosten des Könnens verloren – ebenso wie bei Ärzten, Krankenschwestern und Grabsteinverkäufern.

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