»Es kann doch nicht verlorengehen!«
»Es geht nicht verloren.«
»Wo bleibt es denn?«fragt sie drängender.»Im Spiegel?«
»Nein. Im Spiegel ist es nicht mehr.«
»Es wird schon noch da sein! Woher weißt du das so genau? Du siehst es doch nicht.«
»Andere Leute sehen auch, daß es nicht mehr da ist. Sie sehen nur ihr eigenes Bild, wenn sie vor dem Spiegel stehen. Nichts anders.«
»Sie verdecken es. Aber wo bleibt meins? Es muß da sein!«
»Es ist ja da«, sage ich und bereue, daß ich das ganze Gespräch angefangen habe.»Wenn du wieder vor den Spiegel trittst, ist es auch wieder da.«
Isabelle ist plötzlich sehr aufgeregt. Sie kniet auf der Bank und beugt sich vor. Schwarz und schmal steht ihre Silhouette vor den Narzissen, deren Gelb im schwülen Abend aussieht, als wären sie aus Schwefel.»Es ist also darin! Und vorhin sagtest du, es sei nicht da.«
Sie umklammert meine Hand und zittert. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, um sie zu beruhigen. Mit physikalischen Gesetzen kann ich ihr nicht kommen; sie würde sie verachtungsvoll ablehnen. Und im Augenblick bin ich der Gesetze auch nicht so ganz sicher. Spiegel scheinen auf einmal wirklich ein Geheimnis zu haben.
»Wo ist es, Rudolf?«flüstert sie und drängt sich gegen mich.»Sag mir, wo es ist! Ist überall von mir ein Stück zurückgeblieben? In all den Spiegeln, die ich gesehen habe? Ich habe viele gesehen, unzählige! Bin ich überall darin verstreut? Hat jeder etwas von mir genommen? Einen dünnen Abdruck, eine dünne Scheibe von mir? Bin ich von Spiegeln zerschnitten worden wie ein Stück Holz von Hobeln? Was ist dann noch von mir da?«
Ich halte ihre Schultern.»Alles ist von dir da«, sage ich.»Im Gegenteil, Spiegel geben noch etwas hinzu. Sie machen es sichtbar und geben es dir zurück – ein Stück Raum, ein beglänztes Stück Selbst.«
»Selbst?«Sie umklammert immer noch meine Hand.»Und wenn es anders ist? Wenn es überall begraben liegt in tausend und tausend Spiegeln? Wie kann man es zurückholen? Ach, man kann es nie zurückholen! Es ist verloren! Verloren! Es ist abgehobelt wie eine Statue, die kein Gesicht mehr hat. Wo ist mein Gesicht? Wo ist mein erstes Gesicht? Das vor allen Spiegeln? Das, bevor sie begannen, mich zu stehlen?«
»Niemand hat dich gestohlen«, sage ich ratlos.»Spiegel stehlen nicht. Sie spiegeln nur.«
Isabelle atmet heftig. Ihr Gesicht ist bleich. In ihren durchsichtigen Augen schimmert der rote Widerschein des Mondes.»Wo ist es geblieben?«flüstert sie.»Wo ist alles geblieben? Wo sind wir überhaupt, Rudolf? Alles läuft und saust und versinkt! Halte mich fest! Laß mich nicht los! Siehst du sie nicht?«Sie starrt zum dunstigen Horizont.»Da fliegen sie! Alle die toten Spiegelbilder! Sie kommen und wollen Blut! Hörst du sie nicht? Die grauen Flügel! Sie flattern wie Fledermäuse! Laß sie nicht heran!«
Sie drückt ihren Kopf gegen meine Schulter und ihren bebenden Körper gegen meinen. Ich halte sie und blicke in die Dämmerung, die tiefer und tiefer wird. Die Luft ist still, aber das Dunkel rückt jetzt aus den Bäumen der Allee langsam vor wie eine lautlose Kompanie von Schatten. Es scheint uns umgehen zu wollen und kommt aus dem Hinterhalt heran, um uns den Weg abzuschneiden.»Komm«, sage ich.»Laß uns gehen! Drüben hinter der Allee ist es heller. Da ist noch viel Licht.«
Sie widerstrebt und schüttelt den Kopf. Ich fühle ihr Haar an meinem Gesicht, es ist weich und riecht nach Heu, und auch ihr Gesicht ist weich, ich fühle die schmalen Knochen, das Kinn und den Bogen der Stirn, und plötzlich bin ich wieder tief verwundert darüber, daß hinter diesem engen Halbkreis eine Welt mit völlig anderen Gesetzen lebt, und daß dieser Kopf, den ich mit meinen Händen mühelos umspanne, alles anders sieht als ich, jeden Baum, jeden Stern, jede Beziehung und auch sich selbst. Ein anderes Universum ist in ihm beschlossen, und einen Augenblick lang schwimmt alles durcheinander, und ich weiß nicht mehr, was Wirklichkeit ist – das, was ich sehe, oder das, was sie sieht, oder das, was ohne uns da ist und was wir nie erkennen können, da es mit ihm so ist, wie mit den Spiegeln, die da sind, wenn wir da sind, und die doch immer nichts anderes spiegeln als unser eigenes Bild. Nie, nie wissen wir, was sie sind, wenn sie allein sind, und was hinter ihnen ist; sie sind nichts, und doch können sie spiegeln und müssen etwas sein; aber niemals geben sie ihr Geheimnis preis.
»Komm«, sage ich.»Komm, Isabelle. Keiner weiß, was er ist und wo und wohin er geht – aber wir sind zusammen, das ist alles, was wir wissen können.«
Ich ziehe sie mit mir. Vielleicht gibt es wirklich nichts anderes, wenn alles zerfällt, denke ich, als das bißchen Beieinandersein, und auch das ist noch ein sanfter Betrug, denn da, wo der andere einen wirklich braucht, kann man ihm nicht folgen und ihm nicht beistehen, das habe ich oft genug gesehen, wenn ich im Kriege in die toten Gesichter meiner Kameraden geblickt habe. Jeder hat seinen eigenen Tod und muß ihn allein sterben, und niemand kann ihm dabei helfen.
»Du läßt mich nicht allein?«flüstert sie.
»Ich lasse dich nicht allein.«
»Schwöre es«, sagt sie und bleibt stehen.
»Ich schwöre es«, erwidere ich unbedenklich.
»Gut, Rudolf.«
Sie seufzt, als wäre jetzt vieles leichter.
»Aber vergiß es nicht. Du vergißt so oft.«
»Ich werde es nicht vergessen.«
»Küsse mich.«
Ich ziehe sie an mich. Ich fühle ein sehr leichtes Grauen und weiß nicht, was ich tun soll, und küsse sie mit trockenen, geschlossenen Lippen.
Sie hebt ihre Hände um meinen Kopf und hält ihn. Plötzlich spüre ich einen scharfen Biß und stoße sie zurück. Meine Unterlippe blutet. Sie hat hineingebissen. Ich starre sie an. Sie lächelt. Ihr Gesicht ist verändert. Es ist böse und schlau.»Blut!«sagt sie leise und triumphierend.»Du wolltest mich wieder betrügen, ich kenne dich! Aber jetzt kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!«
»Ich kann nicht mehr weg«, sage ich ernüchtert.»Meinetwegen! Darum brauchst du mich aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet! Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?«
Isabelle lacht.»Nichts«, erwidert sie.»Warum mußt du immer etwas sagen? Sei doch nicht so feige!«
Ich spüre das Blut lau in meinem Munde. Mein Taschentuch hat keinen Zweck – die Wunde muß sich von selbst schließen. Geneviève steht vor mir. Sie ist plötzlich Jenny. Ihr Mund ist klein und häßlich, und sie lächelt schlau und boshaft. Dann beginnen die Glocken für die Maiandacht. Eine Pflegerin kommt den Weg entlang. Ihr weißer Mantel schimmert ungewiß im Zwielicht.
Meine Wunde ist während der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend Mark empfangen und sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek hat seine seidenen Gewänder in der kleinen Sakristei abgelegt. Vor fünfzehn Minuten war er noch eine mystische Figur -, weihrauchumdampft stand er in Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi in der Hostie über die Köpfe der frommen Schwestern und die Schädel der Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht dabeizusein – jetzt aber, im schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht verschwitzten weißen Kragen, der hinten statt vorne geschlossen ist, ist er nur noch ein einfacher Agent Gottes, gemütlich, kräftig, mit den roten Backen, der roten Nase und den geplatzten Äderchen darin, die den Liebhaber des Weines kennzeichnen. Er weiß es nicht – aber er war mein Beichtvater für manche Jahre vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat beichten und kommunizieren mußten. Wer nicht ganz dumm war, ging zu Bodendiek. Er war schwerhörig, und da man bei der Beichte flüstert, konnte er nicht verstehen, was für Sünden man bekannte. Er gab deshalb die leichtesten Bußen auf. Ein paar Vaterunser, und man war aller Sünden ledig und konnte Fußball spielen gehen oder in der Städtischen Leihbücherei versuchen, verbotene Bücher zu bekommen. Das war etwas anderes als beim Dompastor, zu dem ich einmal geriet, weil ich es eilig hatte und weil vor Bodendieks Beichtstuhl eine lange Schlange Wartender stand. Der Dompastor gab mir eine heimtückische Buße auf: ich mußte in einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als ich es tat, fragte er mich, warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lügen darf, sagte ich es ihm, und er gab mir als Buße ein paar Dutzend Rosenkränze zu beten und den Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und ich verzweifelte fast – ich sah mich bereits mein ganzes Leben an der Kette des Dompastors zu wöchentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Glück bekam der heilige Mann in der vierten Woche die Masern und mußte im Bett bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklärte ihm mit lauter Stimme die Lage – der Dompastor habe mich verpflichtet, heute wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich tun solle? Zu ihm hingehen könne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied, daß ich bei ihm ebensogut beichten könne; Beichte sei Beichte und Priester Priester. Ich tat es und war frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie die Pest.