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Ich höre, wie er sich mit Wernicke unterhält. Ich habe plötzlich keine Lust mehr zu essen und stehe auf und gehe ans Fenster. Hinter den bewegten schwarzen Wipfeln ist eine Wolkenwand mit fahlen Rändern emporgewachsen. Ich starre hinaus. Alles scheint auf einmal sehr fremd, und hinter dem vertrauten Gartenbild drängt ein anderes, wilderes schweigend hervor, das das alte wegstößt wie eine leere Hülse. Ich erinnere mich an Isabelles Schrei:»Wo ist mein erstes Gesicht? Mein Gesicht vor allen Spiegeln?«Ja, wo ist das allererste Gesicht? denke ich. Die Urlandschaft, bevor sie zur Landschaft unserer Sinne wurde, zu Park und Wald und Haus und Mensch – wo ist das Gesicht Bodendieks, bevor es Bodendiek wurde, wo das Wernickes, bevor es seinem Namen entsprach? Wissen wir noch etwas davon? Oder sind wir gefangen in einem Netz von Begriffen und Worten, von Logik und täuschender Vernunft, und dahinter stehen die einsam lodernden Urfeuer, zu denen wir keinen Zugang mehr haben, weil wir sie in Nützlichkeit und Wärme verwandelt haben, in Küchenfeuer und Heizung und Schwindel und Gewißheit und Bürgerlichkeit und Mauern und allenfalls in ein türkisches Bad schwitzender Philosophie und Wissenschaft? Wo sind sie? Stehen sie immer noch unfaßbar und rein und unzugänglich hinter Leben und Tod, bevor sie Leben und Tod für uns wurden, und sind vielleicht nur die, die jetzt in diesem Hause in ihren vergitterten Zimmern hocken und schleichen und starren und das Gewitter in ihrem Blut fühlen, ihnen nahe? Wo ist die Grenze, die Chaos von Ordnung scheidet, und wer kann sie überschreiten und zurückkommen, und wenn es ihm gelingt, wer weiß dann noch etwas davon? Löscht das eine nicht die Erinnerung an das andere aus? Wer ist der Gestörte, Gezeichnete, Verbannte, sind wir es mit unseren Grenzen, mit unserer Vernunft, unserem geordneten Weltbild, oder sind es die andern, durch die das Chaos rast und blitzt, und die dem Grenzenlosen preisgegeben sind wie Zimmer ohne Türen, ohne Decke, Räume mit drei Wanden, in die es hineinblitzt und stürmt und regnet, während wir andern stolz in unsern geschlossenen Zimmern mit Türen und vier Wänden umhergehen und glauben, wir seien überlegen, weil wir dem Chaos entkommen sind? Aber was ist Chaos? Und was Ordnung? Und wer hat sie? Und warum? Und wer entkommt je?

Ein fahles Leuchten fliegt über dem Parkrand hoch, und nach langer Zeit antwortet ein sehr schwaches Murren. Wie eine Kabine voll Licht scheint unser Zimmer zu schwimmen in der Nacht, die unheimlich wird, als rüttelten irgendwo gefangene Riesen an ihren Ketten, um aufzuspringen und das Geschlecht der Zwerge zu vernichten, das sie für kurze Zeit gefesselt hat. Eine Kabine mit Licht in der Dunkelheit, Bücher und drei geordnete Gehirne in einem Hause, in dem wie in den Waben eines Bienenkorbes das Unheimliche eingesperrt ist, wetterleuchtend in den zerstörten Gehirnen ringsum! Wie, wenn in einer Sekunde ein Blitz der Erkenntnis durch alle schlüge und sie sich zusammenfänden in einer Revolte, wenn sie die Schlösser brächen, die Stangen zersprengten, und wie eine graue Woge die Treppe hinaufschäumten und das erleuchtete Zimmer, diese Kabine begrenzten, festen Geistes wegschwemmten in die Nacht und in das, was ohne Namen mächtiger hinter der Nacht steht?

Ich drehe mich um. Der Mann des Glaubens und der Mann der Wissenschaft sitzen unter dem Licht, das sie bescheint. Die Welt ist keine vage, zitternde Unruhe für sie, kein Murren aus Tiefen, kein Wetterleuchten in eisigen Ätherräumen – sie sind Männer des Glaubens und der Wissenschaft, sie haben Senkblei und Lot und Waage und Maß, jeder ein anderes, aber das ficht sie nicht an, sie sind sicher, sie haben Namen, die sie wie Etiketten auf alles kleben können, sie schlafen gut, sie haben einen Zweck, das genügt ihnen, und selbst das Grauen, der schwarze Vorhang vor dem Selbstmord, hat seinen wohlgeordneten Platz in ihrem Dasein, es hat einen Namen und ist klassifiziert und damit ungefährlich geworden. Nur das Namenlose tötet, oder das, was seinen Namen gesprengt hat.

»Es blitzt«, sage ich.

Der Doktor sieht auf.»Tatsächlich!«

Er erörtert gerade das Wesen der Schizophrenie, der Krankheit Isabelles. Sein dunkles Gesicht ist von Eifer leicht gerötet. Er erklärt, wie Kranke dieser Art blitzartig, in Sekunden, von einer Persönlichkeit in die andere springen, und daß man sie in alten Zeiten als Seher und Heilige bezeichnet habe und in anderen als vom Teufel Besessene, vor denen das Volk abergläubischen Respekt hatte. Er philosophiert über die Gründe, und ich wundere mich plötzlich, woher er das alles weiß und warum er es als Krankheit bezeichnet. Könnte man es nicht ebensogut als einen besonderen Reichtum ansehen? Hat nicht jeder normale Mensch auch ein Dutzend Persönlichkeiten in sich? Und ist der Unterschied nicht nur der, daß der Gesunde sie unterdrückt und der Kranke sie freiläßt? Wer ist da krank?

Ich trete an den Tisch und trinke mein Glas aus. Bodendiek betrachtet mich wohlwollend; Wernicke so, wie man einen völlig uninteressanten Fall ansieht. Ich fühle zum erstenmal den Wein; ich fühle, daß er gut ist, in sich geschlossen, gereift und nicht lose. Er hat kein Chaos mehr in sich, denke ich. Er hat es verwandelt. Verwandelt in Harmonie. Aber verwandelt, nicht ersetzt. Er ist ihm nicht ausgewichen. Ich bin plötzlich, eine Sekunde lang, ohne Grund unsagbar glücklich. Man kann das also, denke ich. Man kann es verwandeln! Es ist nicht nur eins oder das andere. Es kann auch eins durch das andere sein.

Ein neuer blasser Schein wirft sich gegen das Fenster und erlischt. Der Doktor erhebt sich.»Es geht los. Ich muß zu den Geschlossenen hinüber.«

Die Geschlossenen sind die Kranken, die nie herauskommen. Sie bleiben eingeschlossen, bis sie sterben, in Zimmern mit festgeschraubten Möbeln, mit vergitterten Fenstern und mit Türen, die man nur von außen mit Schlüsseln öffnen kann. Sie sind in Käfigen wie gefährliche Raubtiere, und niemand spricht gerne von ihnen.

Wernicke sieht mich an.»Was ist mit Ihrer Lippe los?«

»Nichts. Ich habe mich im Traum gebissen.«

Bodendiek lacht. Die Tür öffnet sich, und die kleine Schwester bringt eine neue Flasche Wein herein, mit drei Gläsern dazu. Wernicke verläßt mit der Schwester das Zimmer. Bodendiek greift nach der Flasche und schenkt sich ein. Ich verstehe jetzt, warum er Wernicke angeboten hat, mit uns zu trinken; die Oberin hat daraufhin die neue Flasche geschickt. Eine allein wäre nicht genug für drei Männer. Dieser Schlauberger, denke ich. Er hat das Wunder der Speisung bei der Bergpredigt wiederholt. Aus einem Glas für Wernicke hat er eine ganze Flasche für sich gemacht.»Sie trinken wohl nicht mehr, wie?«fragt er.

»Doch!«erwidere ich und setze mich.»Ich bin auf den Geschmack gekommen. Sie haben ihn mir beigebracht. Danke herzlich.«

Bodendiek zieht mit einem sauersüßen Lächeln die Flasche wieder aus dem Eis. Er betrachtet das Etikett einen Augenblick, ehe er mir eingießt – ein viertel Glas. Sein eigenes schenkt er fast bis zum Rande voll. Ich nehme ihm ruhig die Flasche aus der Hand und gieße mein Glas nach, bis es ebenso gefüllt ist wie seines.»Herr Vikar«, sage ich.»In manchen Dingen sind wir gar nicht so verschieden.«

Bodendiek lacht plötzlich. Sein Gesicht entfaltet sich wie eine Pfingstrose.»Zum Wohle«, sagt er salbungsvoll.

Das Gewitter murrt und zieht hin und her. Wie lautlose Säbelhiebe fallen die Blitze. Ich sitze am Fenster meines Zimmers, die Fetzen aller Briefe Ernas vor mir in einem ausgehöhlten Elefantenfuß, den mir der Weltreisende Hans Ledermann, der Sohn des Schneidermeisters Ledermann, vor einem Jahr als Papierkorb geschenkt hat.

Ich bin fertig mit Erna. Ich habe mir alle ihre unangenehmen Eigenschaften aufgezählt; ich habe sie emotionell und menschlich in mir vernichtet und als Dessert ein paar Kapitel Schopenhauer und Nietzsche gelesen. Aber trotzdem möchte ich lieber, daß ich einen Smoking hätte, ein Auto und einen Chauffeur, und daß ich, begleitet von zwei bis drei bekannten Schauspielerinnen, einige Hundert Millionen in der Tasche, jetzt in der Roten Mühle auftauchen könnte, um der Schlange dort den Schlag ihres Lebens zu versetzen. Ich träume eine Zeitlang davon, wie es wäre, wenn sie morgen in der Zeitung lesen würde, ich hätte das große Los gewonnen oder wäre schwer verletzt worden, während ich Kinder aus brennenden Häusern gerettet hätte. Dann sehe ich Licht in Lisas Zimmer.

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