Wieder grollte Donner, diesmal ganz nahe. Ein kalter Wind strich mit der Hand über den Rücken seines Hemdes, das ihm mit Schweiß an der Haut klebte. Er mußte sich irgendwo unterstellen oder mit dem Scheiß aufhören und durch den Tunnel gehen. Wenn er den Mumm dazu nicht aufbrachte, würde er eine weitere Nacht in der Stadt verbringen und am nächsten Morgen über die George Washington Bridge gehen müssen, aber die lag 140 Blocks nördlich. Er versuchte, sachlich über den Tunnel nachzudenken. Da drinnen war nichts, was ihn beißen würde. Er hatte vergessen, eine starke Taschenlampe mitzunehmen - Herrgott, man konnte doch nicht an alles denken -, aber er hatte sein Bic-Gasfeuerzeug, und zwischen dem Fußgängerweg und der Straße verlief ein Geländer. Alles andere... an die Toten in ihren Autos zu denken, zum Beispiel... das war nur die Panik in ihm, dummes Zeug aus Comics, etwa so vernünftig, als würde man an den Schwarzen Mann im Schrank denken. Wenn du an nichts anderes denken kannst, Larry (ermahnte er sich), wirst du in dieser schönen neuen Welt nicht weiterkommen. Wirklich nicht. Du bist...
Fast direkt über ihm riß ein Blitz den Himmel auf, er zuckte zusammen. Ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Wir haben den 1. Juli, fiel ihm ein, heute müßte man eigentlich mit seiner Süßen nach Coney Island fahren und im Dutzend Hot Dogs essen. Mit einem einzigen Ball die drei hölzernen Milchflaschen umwerfen und die Kewpie-Puppe gewinnen. Und abends das Feuerwerk ... Ein kalter Regenguß klatschte ihm ins Gesicht, ein zweiter traf seinen Hals und lief ihm in den Hemdkragen. Große Tropfen gingen um ihn herum nieder. Er stand auf, warf sich den Rucksack über die Schulter und nahm das Gewehr auf. Er wußte immer noch nicht, wohin er gehen sollte - zurück zur 39th oder in den Lincoln Tunnel. Aber er mußte irgendeinen Unterschlupf finden, denn es fing an zu schütten.
Droben grollte Donner mit einem gewaltigen Brüllen, und er schrie auf vor Entsetzen - ein Schrei, der sich in nichts von denen unterschied, die vor zwei Millionen Jahren die Cromagnon-Menschen ausgestoßen haben mochten. »Du elender Feigling«, sagte er und lief auf den Schlund des Tunnels zu und beugte den Kopf tiefer, weil der Regen noch heftiger herunterprasselte. Das Wasser tropfte ihm schon aus den Haaren. Larry lief an der Frau vorbei, die die Nase gegen das Beifahrerfenster des El Dorado drückte, und versuchte, nicht hinzuschauen, aber er sah sie trotzdem aus dem Augenwinkel. Der Regen trommelte auf die Autodächer wie ein Schlagzeugsolo. Er fiel jetzt so heftig, daß die Tropfen wieder hochspritzten und einen leichten Dunstschleier bildeten.
Larry blieb eine Weile unentschlossen und wieder ängstlich vor dem Tunneleingang stehen. Dann fing es an zu hageln, und das gab den Ausschlag. Die Hagelkörner waren groß und schmerzhaft. Donner brüllte erneut.
Okay, dachte er. Okay, okay, okay, das hat mich überzeugt. Er trat in den Lincoln Tunnel.
Drinnen war es viel schwärzer, als er gedacht hatte. Zuerst warf die Öffnung hinter ihm noch spärliches weißes Licht herein, und er konnte noch mehr Autos sehen, Stoßstange an Stoßstange (es mußte schrecklich gewesen sein, hier zu sterben, dachte er, und die Klaustrophobie schlang ihren klammen Bananenfinger zärtlich um seinen Kopf, liebkoste ihn und drückte ihm die Schläfen zusammen, es mußte wirklich schrecklich, es mußte verdammt grauenhaftgewesen sein), und die grünlich-weißen Fliesen, die die gewölbten Wände bedeckten. Rechts sah er das Fußgängergeländer, das sich im Dunkel verlor, links standen in Abständen von zehn oder zwölf Metern große Stützpfeiler. Ein Zeichen riet: NICHT DIE FAHRSPUR WECHSELN. In der Tunneldecke waren dunkle Neonlampen und die leeren Glasaugen von Videokameras eingelassen. Als er die erste sanft geneigte Kurve hinter sich hatte, die leicht nach rechts verlief, wurde das Licht trüber, bis er nur noch das gedämpfte Blinken der Chromleisten sah. Danach hörte das Licht einfach auf zu existieren.
Er kramte das Bic aus der Tasche, hielt es hoch und drehte das Rad. Das Licht, das es erzeugte, war jämmerlich klein und machte sein Unbehagen eher größer als kleiner. Selbst wenn er die Flamme ganz aufdrehte, bekam er einen Lichtkreis von höchstens anderthalb Metern Durchmesser.
Er steckte es wieder in die Tasche und ging weiter, wobei er mit der Hand sanft am Geländer entlangstrich. Auch hier drinnen gab es ein Echo, und das gefiel ihm noch weniger als das draußen. Das Echo hörte sich an, als wäre jemand hinter ihm... als würde er verfolgt. Er blieb ein paarmal mit schiefgelegtem Kopf und weit aufgerissenen (aber blinden) Augen stehen und wartete, bis das Echo verstummt war. Nach einer Weile schlich er nur noch, ohne die Füße vom Boden zu nehmen, damit das Echo nicht wiederkehrte. Bald darauf blieb er wieder stehen und hielt das Feuerzeug dicht an die Armbanduhr. Es war 4.20 Uhr, aber er wußte nichts damit anzufangen. In dieser Schwärze schien die Zeit keine objektive Bedeutung zu haben. Entfernung im übrigen auch nicht; wie lang war der Lincoln Tunnel überhaupt? Eine Meile? Zwei? Der Hudson war doch keine zwei Meilen breit. Sagen wir, eine Meile. Aber wenn es nur eine Meile war, hätte er schon lange das andere Ende erreicht haben müssen. Wenn der durchschnittliche Mensch vier Meilen in einer Stunde zurücklegt, kann er eine Meile in fünfzehn Minuten schaffen, und er steckte schon fünf Minuten länger in diesem stinkenden Loch.
»Ich gehe viel langsamer«, sagte er und erschrak beim Klang seiner eigenen Stimme. Das Feuerzeug fiel ihm aus der Hand und schlug mit einem Klicken auf dem Pflaster auf. Das Echo antwortete ihm und verzerrte sich zu der gefährlich heiteren Stimme eines näher kommenden Irren:
». ..viel langsamer... samer... samer...«
»Mein Gott«, murmelte Larry, und das Echo flüsterte: „o tt... ott... ott«
Er strich sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte, die aufsteigende Panik zu bekämpfen und den Drang, nicht mehr zu denken, sondern einfach blind loszustürmen. Statt dessen kniete er sich hin (seine Knie hallten wie Pistolenschüsse, was ihm wieder angst machte) und strich mit den Fingern über die Miniaturtopographie des Fußgängerwegs - unebenmäßige Täler im Beton, die Erhebung einer alten Zigarettenkippe, den Berg einer zusammengeknüllten Metallfolie - und zu guter Letzt sein Bic. Mit einem inneren Seufzer der Erleichterung nahm er es fest in die Hand, stand auf und ging weiter.
Larry hatte sich allmählich wieder unter Kontrolle, als er mit dem Fuss gegen etwas Steifes und Unnachgiebiges stieß. Er stieß eine Art inhalierenden Schrei aus und taumelte zwei Schritte rückwärts. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, während er das Bic-Feuerzeug aus der Tasche holte und anzündete. Die Flamme flackerte irre in seinem zitternden Griff.
Er war auf die Hand eines Soldaten getreten. Dieser saß mit dem Rücken an die Tunnelwand gelehnt und streckte die Beine über den Fußgängerweg aus, ein grausiger Wachposten, der den Durchgang versperrte. Er starrte Larry aus glasigen Augen an. Seine Lippen waren von den Zähnen gefault, er schien zu grinsen. Ein Springmesser ragte keck aus seinem Hals.
Das Feuerzeug in Larrys Hand wurde warm. Er ließ es ausgehen. Er leckte sich die Lippen, klammerte sich an das Geländer und zwang sich dazu weiter' zugehen, bis er mit der Schuhspitze wieder gegen die Hand des toten Soldaten stieß. Mit einem übertriebenen langen Schritt stieg er über ihn hinweg, und plötzlich überkam ihn eine Art alptraumhafte Gewißheit. Er würde das Scharren der Stiefel hören, wenn der Soldat sich bewegte, und dann würde der Soldat ihn mit kaltem Griff am Bein packen.
In schlurfendem Trab lief Larry noch zehn Schritte und blieb dann stehen, weil er wußte, wenn er nicht stehenblieb, würde die Panik wieder die Oberhand gewinnen, und er würde, von einem schrecklichen Regiment Echos verfolgt, blind weiterlaufen. Als er merkte, daß er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, ging er weiter. Aber jetzt war es noch schlimmer; die Zehen schrumpften ihm in den Schuhen zusammen, er fürchtete, jeden Moment wieder über eine Leiche zu stolpern... und gleich darauf geschah es auch.